Hamburg. „Lesen ohne Atomstrom“ bietet eine Woche lang kostenlose Livestreams mit Prominenz. Motto: „Die Niederlage des rationalen Menschen“.

Als es noch die „Vattenfall-Lesetage“ gab, da wirkte „Lesen ohne Atomstrom“ anfangs wie ein reines Anti-Vattenfall-Lesetage-Projekt. 2011 war das, im Jahr der Natur- und Nuklear-Katastrophe im japanischen Fukushima. Zwei Jahre darauf war das vom schwedischen Energiekonzern geförderte traditionsreiche Literaturfestival (ehemals „HEW Lesetage“) Geschichte.

Die „Erneuerbaren Lesetage“, wie „Lesen ohne Atomstrom“ von Beginn an im Zusatz heißt, sind bis heute ein etwas anderes, stets aktuelles politisches Festival geblieben – und längst etablierter Bestandteil des Hamburger Kulturkalenders. Mit viel Prominenz von außerhalb des etatmäßigen Literaturbetriebs. Daran hat auch die von Corona erzwungene Pause 2020 nichts geändert.

Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch gibt Mottto vor.

Lautete das Motto vor zwei Jahren noch „Protest & Widerstand“, trägt die neunte Auflage vom 8. bis 14. Februar ohne Publikum vor Ort den Titel „Die Niederlage des rationalen Menschen“, benannt nach einem Essay von Swetlana Alexijewitsch. Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin war 2017 selbst Gast bei den Lesetagen und hat das neue „Lesen ohne Atomstrom“-Buch geschrieben. In dem fordert sie in einem Essay: „Act now!“ (Handelt jetzt!). Dazu kommen Reflexionen von zwei Dutzend Autoren aus aller Welt.

Bis zum kommenden Sonntag sollen alle Veranstaltungen Alexijewitschs „Niederlagen des rationalen Menschen“ thematisieren: Klimawandel, Artensterben, nukleare Verseuchung und das Leid Millionen Geflüchteter weltweit.

Finale am 14.2:  „Lesen ohne Atomstrom“ kooperiert mit ARD

Beim Finale am 14. Februar kooperiert „Lesen ohne Atomstrom“ erstmals mit der ARD: Das Festival präsentiert mit den TV-Stars Thomas Thieme, Katja Bürkle und Michael Rotschopf eine eigens arrangierte, etwa 70-minütige Bühnenfassung der bislang unveröffentlichten ARD-Hörspielproduktion „Saal 101“. Das insgesamt zwölfstündige Werk über den NSU-Prozess wird erst fünf Tage später in allen ARD-Programmen ausgestrahlt.

Gespräche und Lesungen werden von diesem Montag an allabendlich live aus der Hamburger Akademie der Künste im Internet gestreamt, ein Hygienekonzept soll für die sichere Durchführung sorgen. „Das wird erstmals ein hy­brides Festival“, sagt Festivalsprecher Oliver Neß, „einige unserer Gäste sind wegen pandemiebedingter Reisebeschränkungen live per Video dabei.“

Auch Schauspielerin Katja Riemann liest Texte

Gilt zum Auftakt heute nach einer kurzen Begrüßung von Frank Otto, Vorstandsmitglied des veranstaltenden Vereins Kultur für alle, beim Thema „Final Century? Zeit für die Revolte!“ etwa für US-Ökonom Dennis L. Meadows, den britischen Astronom Lord Martin Rees und die italienische Philosophin Donatella Di Cesare sowie den aus Stockholm zugeschalteten Moderator Ole von Uexkuell (Direktor der Right Livelihood Award Foundation); nur Schauspieler Walter Sittler sitzt neben Otto und Neß in der Akademie und liest drei Texte aus dem neuen Buch „Act now!“.

Katja Riemann kommt am Mittwoch in die Freie Akademie, um zu lesen.
Katja Riemann kommt am Mittwoch in die Freie Akademie, um zu lesen. © Unbekannt | imago stock imago images

Am Dienstag (jeweils 19.20 Uhr) kommt dann Palermos Bürgermeister und Mafia-Jäger Leoluca Orlando virtuell mit Aktivistinnen wie der Flüchtlingsretterin Pia Klemp und Schauspielerin Katja Riemann zusammen. Die engagierte Unicef-Patin liest wie alle Schauspieler auch Texte. Gemeinsames Motto: „Lo sono persona – Die Grenzen niederreißen“.

Pia Klemp zum Thema  „No Border – Literatur als Waffe“

Pia Klemp, aber auch Riemanns Schauspielkollegin Renan Demirkan ist am Mittwoch (19.50 Uhr) gefragt, wenn das Thema lautet: „No Border – Literatur als Waffe“. Tags darauf wird der populäre Hamburger Klimaforscher Mojib Latif gewiss Erhellendes zum Thema „System Change – Gegen den Burn-out des Planeten“ zu sagen wissen. Auch die indische Wissenschaftlerin Vandana Shiva und der Wahlhamburger Schauspieler Sebastian Bezzel sind ab 19.20 Uhr dabei.

Autorin Annika Joeres liest aus ihrem Sachbuch „Die Klimaschmutzlobby“. Am Sonnabend sind der Hamburger TV-Conférencier Michel Abdollahi („Deutschland schafft mich“) und die oft bedrohte Berliner Kabarettistin Idil Baydar neben drei Autoren und dem Polizei-Professor Rafael Behr zwei Diskussionsteilnehmer, wenn es heißt: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen – NSU 2.0“ Insgesamt werden – stets ohne Honorar – mehr als 40 Autoren und Künstler erwartet.

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Neun Jahre lang lag Festival-Auslastung bei 100 Prozent

Wie sie vermisst der unternehmerische Freigeist Frank Otto mit Kultur für alle e. V. schon jetzt „eines der Markenzeichen von ,Lesen ohne Atomstrom‘: die außerordentlich vielen engagierten Zuschauer.“ Sie hatten neun Jahre lang für eine Festival-Auslastung von 100 Prozent gesorgt. Das Verfolgen der Livestreams ist übrigens ebenso kostenlos wie es vor Corona der Besuch der Theater war. Im Internet können ohne Andrang nun sogar mehr Interessierte dabei sein – auch wenn der Stromverbrauch dann steigt.

„Lesen ohne Atomstrom – 9. Erneuerbare Lesetage“ Mo–So, 8.–14.2., Infos und Livestreams unter www.lesen-ohne-atomstrom.de