Hamburg. In seinem jetzt veröffentlichten Buch „Hotel der Schlaflosen“ erweist sich Ralf Rothmann erneut als großartiger Schriftsteller.
Um die Klasse eines großartigen Erzählers zu vermessen, um sein Können auszuloten und seine Finesse, genügt in manchen Fällen der Blick auf das eigentlich längst nicht mehr Originelle. In der schönen, tiefen Erzählung „Der Wodka des Bestatters“ zitiert Ralf Rothmann Johann Peter Hebels „Kalendergeschichten“. Das „Unverhoffte Wiedersehen“ einer Braut mit ihrem verschüttgegangenen Verlobten, 50 Jahre nach dessen Verschwinden, hat abgewandelt immer wieder Eingang in die erzählende Literatur gefunden. Bei Rothmann nun auch.
Egon Bönninghoff aus Mülheim, der versoffene Bestatter und Held der Geschichte, wird zur Zeche gerufen. Ein Unglück, viele Tote. Aber es ist lange her, mumifiziert liegen die Kumpel da, ihre Gesichter so jung, als wären sie eben erst eingefahren. Der Bestatter dagegen: „Egons Haarkranz war grau, er hatte Warzen und Altersflecken an den Schläfen und silberne Hautkrebsnarben auf der Glatze und hätte eigentlich schon Rentner sein müssen, wie gesagt.“
Da spricht der Ich-Erzähler einer ans Herz gehenden Geschichte
Der da spricht, ist der Ich-Erzähler der Erzählung. Er ist der Sohn der Lebenspartnerin Egons, seine Ex ist mittlerweile mit seinem Bruder zusammen. Eine schwelende Wunde. In die Egon auf der Fahrt zur Zeche, der Erzähler arbeitet für ihn, fröhlich sticht, er triezt ihn mit seinem Versagen, angeblich ein sexuelles. Egon kennt keine Gnade. Dabei ist er mit der weitaus größeren Wunde geschlagen, seinen Vater lernte er nie kennen. Vor Egons Geburt kam der von der Zeche nicht mehr nach Hause.
Aber jetzt sieht er ihn erstmals, tatsächlich: Der Bestatter holt seine Leiche ab. Die Erkennungsmarken der jahrzehntelang Verschollenen lassen keinen Zweifel zu. „Der über siebzigjährige Egon fuhr seinen Vater durch das Schneegestöber nach Hause. Seinen dreiundzwanzigjährigen Vater“, heißt es in dieser, nun ja, ans Herz gehenden Geschichte.
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Rothmann ist ein Meister der szenischen Schilderung
Es ist eine der stärksten in diesem Band. Rothmann, der zuletzt die von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Weltkriegsromane „Im Frühling sterben“ und „Der Gott eines Sommers“ vorlegte, setzt mit ihr die existenzielle Erfahrung des Verlusts auf nahezu makellose Weise ins Werk. Als Meister der szenischen Schilderung setzt er trotz einer gewissen Lakonie auf die Überwältigung des Lesers; und weil diese Geschichte gleichzeitig leise und laut ist, vollbringt er das Kunststück, die Hebel-Hommage so frisch wirken zu lassen wie niemand sonst. Man kann darüber streiten, ob die Verlustgeschichte des Erzählers – der mit der Exfreundin – notwendig ist für Gelingen und Aussage der Erzählung. Entscheidend ist dies nicht.
Ralf Rothmann, 1953 geboren in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrpott, seit viereinhalb Jahrzehnten in Berlin ansässig, gehört seit Langem zu den besten deutschsprachigen Erzählern. Dass er die narrative Kurzform so gut beherrscht wie den Roman, ist bekannt. Aber was das angeht, ist „Hotel der Schlaflosen“, jener zurechtgefeilte Erzählungsreigen, der außer vom Verlust auch von den Ängsten handelt, wohl tatsächlich seine beste Arbeit.
Rothmanns Menschenzugewandtheit ist dort aufmerksam und am präzisesten, wo es um Wendepunkte geht. Diese Erzählungen bevölkern dem Tode geweihte Geigerinnen, alternde Hochschullehrer und nostalgische Heimkehrer, aber auch der Schriftsteller Isaak Babel, dessen Hinrichtung im Zuge der stalinistischen Säuberungen in der Titelgeschichte aus der Perspektive seines Mörders geschildert wird.
Vor der Exekution lässt dieser Babel die Ausgabe eines seiner Bücher signieren. Niemals würde der Täter sich als Zyniker begreifen; bezüglich Babels postumer Rehabilitierung sagt er in aller Unschuld: „Man sprach ihn in allen Anklagepunkten frei, ganz offiziell, und das hat mich gefreut.“
„Auch das geht vorbei“: Eine harte, klare Erzählung
Rothmann baut in seinen Erzählungen Atmosphären und Themen, die sich nie ausbuchstabieren. Bis auf einmal: „Auch das geht vorbei“ ist ein erschütterndes Protokoll eines vermurksten, chancenlosen Lebens. Eine harte, klare Erzählung. „Der Dicke Schmitt“ ist ein kompromissloser Polier, der nur dann verwundbar scheint, wenn es um seine Tochter geht. Den Ich-Erzähler selbst erreicht er nicht mehr; dieser Maurer mit Abendschulabschluss will nur noch weg, und dabei geht er über gebrochene Herzen. „Die Nacht in der Wüste“ berichtet von väterlichen Gefühlen, die sich aus dem Schmerz von einst schälen.
Und „Ein leises Ziehen in der Herzgegend“ ist als Coda dieser vielgestaltigen Komposition bittersüß: Der Mann, der in seinen Geburtsort zurückkehren will, erinnert dessen Namen falsch. Aber dann findet er ihn, und dann spürt er das Meer, weil es da zieht, wo das Herz ist.