Hamburg. Regisseur Franz Wittenbrink hat fürs St. Pauli Theater einen neuen Liederabend geschrieben. Er hofft auf einen neuen Premierentermin.

Seine Arbeit ist getan. Alles ist geschrieben, arrangiert, inszeniert. Und die Premiere? Franz Wittenbrink wirkt derart entspannt, als hätte er sie schon hinter sich. Hat er ja auch – zumindest so gut wie. „Wir haben wie auf eine Premiere hingearbeitet“, erläutert Wittenbrink. Er sitzt an diesem Vormittag vor dem Flügel in seinem geräumigen Arbeitszimmer in einem Hinterhof in St. Georg. Milde November-Luft dringt durchs weit geöffnete Fenster.

Am vergangenen Wochenende hätten sein Regieteam und das sechsköpfige Ensemble den kompletten Durchlauf im St. Pauli Theater wie eine Premiere begangen, erzählt er. Mit einem Gläschen Sekt davor und danach – alles schön auf Abstand. „Nicht anfassen!“ Diese Regel galt nicht nur hinter, auch auf der Bühne. „Nicht anfassen!“, so heißt der neue Streich aus Wittenbrinks Feder. Er hätte Ende dieser Woche Premiere feiern sollen – der Teil-Lockdown bis zunächst Ende November macht es unmöglich.

Ein Liederabend à la Wittenbrink

Das Plakatmotiv zu „Nicht anfassen!“ ist dennoch fast überall in der Stadt zu sehen. Es ist – sagen wir mal so – recht knackig und zeigt einen gelben Handabdruck auf einem von einem Slip bedeckten Gesäß. Unisex? „Die Verantwortlichen vom St. Pauli Theater haben sich schon was dabei gedacht“, sagt Wittenbrink lächelnd. Noch besser gefalle ihm der Untertitel des Stücks, lässt der Regisseur durchblicken: „Liebe in Zeiten des Abstands“.

Es ist ein Liederabend à la Wittenbrink. Jenes Genre hatte der Wahlhamburger Mitte der 90er-Jahre am Deutschen Schauspielhaus mit seinen fulminanten „Sekretärinnen“ und Songs über den alltäglichen Wahnsinn in einem Großraumbüro perfektioniert. Am St. Pauli Theater folgten etwa „Lust“ und „Nacht-Tankstelle“. Hätte Wittenbrink jedoch nicht bereits vor den „Sekretärinnen“ mit dem musikalischen Schauspiel über die Comedian Harmonists einen weiteren Dauerbrenner geschrieben – wer weiß, ob er jetzt so gelassen hier sitzen würde. „Das Geld aus den Urheberrechten von ,Sekretärinnen‘ und ,Comedian Harmonists‘ aus früheren Jahren hat mich den kompletten Einnahmeausfall seit April überstehen lassen“, sagt Wittenbrink freimütig. Neues inszenieren konnte der Musikkünstler wegen der Theaterschließungen lange gar nicht.

Konzept nach den ersten zehn Probentagen über den Haufen geworfen

Bis Ulrich Waller, der künstlerische Leiter des St. Pauli Theaters, Wittenbrink im Spätsommer anrief und fragte, ob er nicht ein coronagemäßes Stück schreiben könne. „Uli, gib mir zwei Tage“, sagte Wittenbrink und dachte sich: „Herausforderungen, die ich so noch nicht kenne, machen mir womöglich mehr Spaß!“ Als Wittenbrink zusagte, dachte er zunächst an eine Art Revue.

Ein Hingucker: das Plakat von „Nicht anfassen!“
Ein Hingucker: das Plakat von „Nicht anfassen!“ © The Art of Photo

Jetzt aber sollen ein älteres Paar sowie zwei mittelalte und zwei jüngere Frauen und Männer spielerisch die allgemeine Sehnsucht nach Kontakt und Nähe dreier Generationen mit Leben füllen. „Wir haben das Konzept nach den ersten zehn Probentagen komplett über den Haufen geworfen“, erzählt Wittenbrink mit seinem herzlichen, kehligen Lachen, schiebt kurz den Mundschutz runter und gönnt sich eine Genuss-Zigarette zwischendurch. „Jeder weiß ja, dass ich kein autoritärer Regisseur bin und gern mit mir reden lasse“, sagt der 72-Jährige,

Bewährte Mitstreiter

Als Verfechter der „Demokratur“ wollte der ungekrönte König der Liederabende auch diesmal nicht auf bewährte Mitstreiter verzichten. Allen voran Peter Franke (79), bundesweit als Weltmeister-Trainer Sepp Herberger im Kinoerfolg „Das Wunder von Bern“ bekannt. Dazu Holger Dexne, der etwa in Wittenbrinks satirischer Integrations-Revue „Willkommen – Ein deutscher Abend“ als Muttersöhnchen im Autonomen-Gewand überzeugte. Dann noch Anneke Schwabe, vor Corona in „Cabaret“ am Hansa-Theater die ausdrucks- und gesangsstarke Sally Bowles und bei Wittenbrinks Abenden „Aida“ und „Lust“ engagiert. Sie gibt in „Nicht anfassen!“ auch eine im Homeschooling gestresste Mutter. Dass als Vertreterin der jungen Garde Katharina Wittenbrink zum Ensemble gehört, erhöht den Reiz. Es ist die erste Zusammenarbeit von Vater und Tochter.

Getreu Franz Wittenbrinks Devise „Ich mache reines Musiktheater, nicht etwa Schauspiel mit Musik“ sollen auch bei „Nicht anfassen!“ die von ihm neu arrangierten Lieder die Beziehungen und Befindlichkeiten ausdrücken. Die deutschen Texte haben Wittenbrinks Partnerin Anne Weber und Susanne Lütje geschrieben. „Wie geht jeder Einzelne mit den schwierigen Lebensumständen um?“ Diese Frage haben sich Wittenbrink und seine Texterinnen gestellt. Eine weitere Herausforderung waren die Sicherheits- und Hygieneauflagen auf der breiten Probenbühne in St. Georg.

Auch musikalisch gibt es viel Absurdes

Dort ließ der Regisseur Kleiderständer auf Rollen mit Frischhaltefolie umwickeln. Sie standen zwischen den Schauspielern, als Abstandshalter. „Sonst hätten sie sich auf der Bühne ja kaum gesehen“, sagt Meister Wittenbrink. Im St. Pauli Theater waren es dann immerhin Plexiglasscheiben, im Gegensatz zur Probenbühne konnten die Darsteller anders als zuvor hier auch mal ohne Mund-Nasen-Schutz singen.

Kreativ auch in der Krise: Komponist, Arrangeur und Regisseur Franz Wittenbrink (72) schrieb schon „Sekretärinnen“.
Kreativ auch in der Krise: Komponist, Arrangeur und Regisseur Franz Wittenbrink (72) schrieb schon „Sekretärinnen“. © Roland Magunia

Auch zum „Romeo und Julia“-Thema hat sich der Regisseur Wittenbrink eine Szene gegönnt – ein besonderes Maskenspiel. Seine Tochter Katharina und Schauspielerkollege Andreas Bongard geben die Szene beim Maskenball, es kommen Atemmasken, eine Trennwand, Dexne als progressiver Theaterregisseur sowie zwei Federballschläger ins Spiel. Wittenbrink kann darüber jetzt noch herzhaft lachen.

Auch musikalisch steckt viel Absurdes drin, betrachtet man die 23 Titel der vorläufigen Endfassung. „Fett“ singt Senior Franke als Hobbykoch zu Michael Jacksons „Bad“, die junge Generation rappt trotz Corona sarkastisch „Party, Party, Party“, die Alten kontern mit Bachs „Ich freu mich auf meinen Tod“.

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Dennoch: Sein Liederabend, „er will Mut machen und vermitteln, am Leben wieder Spaß zu haben“, so Wittenbrink. Und falls „Nicht anfassen!“ auch Anfang Dezember nicht zur Aufführung kommt, dann im nächsten Jahr. Etwas mehr Distanz zum jetzigen Pandemie-Geschehen könnte auch im Theater nicht schaden. Dann ließe sich wohl befreiter lachen. Derzeit endet „Nicht anfassen!“ mit „Ich überleb’s“, der aktualisierten deutschen Fassung des Disco-Hits „I Will Survive“. Verlängerung möglich: Eigentlich hat dieser Liederabend sogar 30 Nummern.

„Nicht anfassen! – Liebe in Zeiten des Abstands“ geplant Do 3.–So 6.12., jew. 20.00, St. Pauli Theater, Karten zu 36,90 bis 49,- unter T. 47 11 06 66; www.st-pauli-theater.de