Hamburg. Der Kantor an St. Johannis, Christopher Bender, frickelt seit Monaten an einem Orchester-Playback des gesamten Mozart-Requiems.
Homeoffice. Das heißt für viele Musikerinnen und Musiker vor allem: Üben, üben, üben. Bei Christopher Bender kam in den letzten Monaten noch eine andere Disziplin dazu: Klicken, Klicken, Klicken. Tausendfach.
Mit der Maus seines Computers. „Ich war tatsächlich mal kurz vor einer Sehnenscheidenentzündung“, sagt der Kantor an St. Johannis in Harvestehude. „Weil ich über den Daumen gepeilt etwa 600 Stunden an der Tastatur gesessen habe.“
Seit Ende Mai frickelt Bender sechs Tage die Woche an einem Orchester-Playback des kompletten Mozart-Requiems. Für eine Konzert-Installation, bei der vom 1. bis zum 15. November jeden Abend das ganze Werk erklingt, gesungen vom Chor St. Johannis und dem Vokalwerk Hamburg sowie vier Solisten. Aber nicht live, vor Ort, sondern aus der digitalen Konserve.
Pro Takt des Mozart-Requiems hat er etwa eine Stunde gebraucht
Dafür brauchte Bender ein Orchester. Und das hat er sich diesmal nicht aus der freien Szene engagiert, die er ansonsten nach Kräften unterstützt – weil das für 15 Aufführungen kaum machbar gewesen wäre. Sondern ausnahmsweise mit Rechner und Mischpult selbst gebastelt. Aus den Instrumentalsamples der Software-Reihe „Berlin Orchestra“, für die echte Musikerinnen und Musiker Tausende Töne eingespielt haben.
Damit diese Töne nicht nach Maschine klingen, müssen sie erst einmal entsprechend programmiert werden, wie Bender erklärt. „All das, was wir Musiker sonst intuitiv machen, braucht einen Befehl. Hier ein bisschen länger, da ein bisschen lauter, mehr gebunden oder abgesetzt.“ Pro Takt des Mozart-Requiems hat er etwa eine Stunde gebraucht, auf seinem Mischpult liegen rund 120 Spuren übereinander. Das muss man schon wollen. „Zwischendrin, beim Satz ,Domine Jesu‘ war ich mal total entnervt, da ist mir der Zeitplan um die Ohren geflogen und ich habe echt schlecht geschlafen“, gesteht der 41-Jährige, mit Augenringen um seine Lachfältchen. „Aber ich mag ja die sportliche Herausforderung.“
Schwierige Situation beim Chorsingen im Frühjahr
Die ergab sich aus der schwierigen Situation beim Chorsingen im Frühjahr. Wie viele Kolleginnen und Kollegen ist auch Bender im Mai und Juni zum Proben an die frische Luft gegangen, um das Infektionsrisiko so gering wie
möglich zu halten. Doch das künstlerische Ergebnis hat ihn nicht überzeugt. „Natürlich war es total wichtig und
kostbar, sich wieder mit dem ganzen Chor sehen zu können und diese Freude zu spüren. Aber die musikalische Qualität hat in der Phase eher gelitten. Bei einem so großen Ensemble mit knapp hundert Leuten und den entsprechenden Abständen ist es unmöglich, sich vernünftig zu hören. Ich möchte aber schon, dass es eine Entwicklung gibt, dass es in jeder Probe einen Schritt vorangeht.“
Aus der für ihn frustrierenden Situation ohne klares Ziel vor Augen entstand der Wunsch, eine Aufführung des Mozart-Requiems zu stemmen, allen widrigen Umständen zum Trotz. „Das war in einer Phase, als man auf Facebook von Videos überschwemmt wurde, in denen Chöre ihre zu Hause aufgenommenen Clips in liebevoller Kleinarbeit zusammengemixt haben. Da dachte ich: Das machen wir anders, und zwar mit Mozart.“ Dessen Requiem hätte der Chor St. Johannis eigentlich auf einer Konzertreise nach Tschechien singen wollen. Die fiel natürlich flach. So keimte die Idee, das Stück stattdessen digital zu produzieren, damit der ganze Chor teilnehmen kann, und dafür ein virtuelles Orchester zu programmieren.
Mischung aus Präsenz- und Zoom-Meetings
„Eine Schnapsidee, total unausgereift“, wie Bender mit breitem Grinsen einräumt. „Da war der Mund mal wieder schneller als der Kopf. Aber irgendwann hatte ich sie so vielen Menschen erzählt, dass klar war: Da komme ich jetzt nicht mehr raus!“
Parallel zu seinen Nerd-Sessions am PC hat er mit der Kantorei geprobt, in einer Mischung aus Präsenz- und Zoom-Meetings. „Ich habe den Chor in sechs Gruppen à 15 Menschen aufgeteilt, damit wir im Gemeindesaal genug Sicherheitsabstand haben. Während etwa der eine Teil vom Sopran vor Ort war, hat der andere zu Hause am Bildschirm mitgemacht. Die Arbeit war extrem konzentriert, wir haben tolle Fortschritte gemacht.“
Gastro, Sport, Theater: Corona-Lockdown light für Hamburg
In Kleingruppen hat der Chor St. Johannis schließlich die Vokalstimmen des Mozart-Requiems eingesungen, mit dem Playback des Orchesters im Ohr. Mithilfe eines Tonmeisters fummelt Christopher Bender jetzt die verschiedenen Tracks übereinander und präsentiert den Besuchern von St. Johannis 15 Tage lang ein besonderes Konzerterlebnis.
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Die Audioaufnahmen von Chor, Orchester und Solisten sind aus mehreren Boxen zu hören, sodass eine Räumlichkeit im Klang entsteht. Dazu gibt es auf Leinwand eine Projektion des Videokünstlers Jonas Möllenbeck. Außerdem blicken die Besucher auf leere Stühle und Notenpulte und ein leeres Chorpodest – denn die Installation soll ausdrücklich kein Ersatz für das „echte“ Konzerterlebnis sein, wie der Kantor betont. „Ich möchte einerseits einen kreativen Umgang mit den coronabedingten Einschränkungen zeigen, aber andererseits auch den Mangel, den wir dadurch haben. Man muss ihn benennen, man muss ihn sehen. Denn es ist wichtig, dass wir die Sehnsucht aufrechterhalten.“
Mozart-Requiem als Konzertinstallation ab 1. November, geplant bis 15.11. (abhängig von den aktuellen Corona-Einschränkungen), jeweils 20.00, St. Johannis-Harvestehude, Turmweg 35, Tickets (10,-) unter T. 45 33 26