Hamburg. „Letter To You“ist ein Album das Kraft spendet. Eingespielt hat der „Boss“ es in wenigen Tagen mit seiner Familie, der E Street Band.
„Blood Brothers“ – Blutsbrüder. Es ist der 1. Juli 2000, als Bruce Springsteen diesen Song im New Yorker Madison Square Garden singt. Nach der Hälfte des Stücks winkt er die Mitglieder seiner E Street Band zu sich an den Bühnenrand, wo sie einander die Hände reichen, während Springsteen mit eine Träne im Auge ihre ewige Verbundenheit beschwört. Eine bewegende, auf YouTube zu sehende Szene, die in weniger als einer Minute alles über diese mehr als nur musikalische Gemeinschaft sagt.
Auch wenn Springsteen die E Street Band in den vergangenen Jahrzehnten immer mal wieder pausieren ließ, um andere Projekte zu verfolgen, waren die Mitglieder doch stets Teil seines Lebens, ganz besonders natürlich Gitarristin Patti Scialfa, mit der er seit 1991 verheiratet ist.
Springsteen schrieb die Lieder in zehn Tagen
Dass mit „Letter To You“ nun ein Album erscheint, für das sich die Band seit „Born In The U.S.A.“ (1984) erstmals wieder über einen längeren Zeitraum im Studio versammelte, ist keine große Überraschung – entsprechende Gerüchte kursierten in Fankreisen schon lange. Aber welch unglaubliche Qualität die neun neuen und drei nicht so neuen Songs haben, damit war nicht unbedingt zu rechnen.
In gerade mal zehn Tagen habe er die Lieder geschrieben, hat Springsteen dem amerikanischen „Rolling Stone“ erzählt, fünf Studiotage wurden anschließend gebucht, aber nach dem vierten war bereits alles im Kasten. „Am letzten Tag haben wir uns die Aufnahmen nur noch ganz in Ruhe angehört“, so Gitarrist Steven Van Zandt. Auch die begleitende Dokumentation, exklusiv beim Streamingdienst apple tv+ zu sehen, zeigt, wie vertraut-familiär die Stimmung war.
Springsteen-Album: Eintauchen ins Rock 'n' Roll-Lebensgefühl
Es ist ein Album, bei dem Bruce Springsteen tief in das Rock ‘n’ Roll-Lebensgefühl eintaucht, das ihn begleitet, seit er mit 16 zum ersten Mal mit einer Band auf der Bühne stand. „I wanted you to heal me/But instead you set me on fire“ singt er im treibenden „Burnin’ Train“, das vom furiosen Schlagzeugwirbel eines Max Weinberg bis zu den nach vorn drängenden Gitarrenläufen alles hat, was so ein pumpendes Sehnsuchtsstück braucht.
Ja, irgendwann ist bei ihm die Lunte entzündet worden. Eine Lunte, die auch mit 71 Jahren brennt wie eh und je. Das „House Of A Thousand Guitars“ bleibt sein Lebenselixier, denn sein Platz, so singt er, sei dort „where the music never ends“. In den großen Fußballstadien wie in den kleinen Clubs, in denen er gelegentlich immer noch (unangekündigt) auftritt.
Springsteen verabscheut Trump
Ganz bewusst habe er kein politisches Album aufgenommen, sagt Springsteen, der Linksliberale aus einfachen Verhältnissen, der Trump verabscheut und auf einen Biden-Sieg hofft (auch wenn ihm Bernie Sanders noch näher ist). Das wäre doch maximal langweilig gewesen. zumal schon „Wrecking Ball“ (2012) in diese Richtung ging.
Was er stattdessen bietet, ist wieder einmal Nahrung für die Seele. Eine Musik, die Kraft spendet und umhüllt, die wärmt und Hoffnung gibt. „I’m so alone“ singt er in „One Minute You’re Here“, hat aber auch gleich eine Lösung: „I’m coming home“. In „Last Man Standing“ erinnert er sich an seine Anfänge mit der Band The Castilles, deren letztes lebendes Ex-Mitglied er ist, und natürlich weiß er, dass auch seine Zeit auf den Bühnen der Welt endlich ist.
Springsteen-Welttournee für 2022 geplant
Für 2021 war eine Welttournee geplant, jetzt hofft er auf 2022, um auch einer Breitwand-Nummer wie „Ghosts“ die ganz große Bühne zu geben.
Den Lautstärkeregler aufreißen, sich lebendig fühlen, darum geht es in diesem Song, der zum Finale mit Handclaps, Chorgesang und Saxofonlauf richtig groß auffährt. Und der ohne die verstorbenen E Streeter Danny Federici (1950-2008) und Clarence Clemons (1942-2011) auskommen muss, von denen Springsteen sagt, ihr spirit begleite ihn immer noch. Die Zeile „Meet you brother and sister on the other side“ meint auch sie.
Wird es nicht geben: gestreamte Konzerte ohne Live-Publikum
Erstaunlich, wie gut sich die drei älteren Nummern ins emotionale Gesamtbild fügen und zugleich einen eigenen Charakter besitzen, vor allem „Song For Orphans“, der klingt, als habe da der junge Bob Dylan einen seiner besten Studiomomente gehabt. Und „Janey Needs A Shooter“, die Ursprungsversion entstand bereits 1973, kennen eingeschworene Fans bereits von einigen nicht autorisierten CDs mit Perlen aus dem Springsteen-Archiv.
Dass dort noch viel zu holen ist, ist inzwischen klar: Im „Rolling Stone“ hat Bruce Springsteen die Existenz kompletter unveröffentlichter Alben bestätigt, schon länger wird am zweiten Teil der umfangreichen Raritäten-Sammlung „Tracks“ gearbeitet.
Das Warten auf unvergessliche Springsteen-Momente beginnt
Nur eines wird es nicht geben: gestreamte Konzerte ohne Live-Publikum. Wozu auch? Seine Auftritte, die eine geradezu spirituelle Qualität haben können, brauchen den ganz direkten Austausch. Zwischen denen auf und denen vor der Bühne.
Das Mitsingen von Tausenden, den Jubel, den Schweiß, die Gänsehaut. Einen aktuellen Soundtrack dafür haben Bruce Springsteen und seine E Street Band geliefert. Jetzt heißt es abwarten, bis unvergessliche Momente wie damals im Madison Square Garden endlich wieder möglich sind.