Hamburg. Corona verhindert die dringend notwendige Mitgliederwerbung in den Schulen. Und die Zeit für die Ausbildung ist knapp.

Die Türen zur Kirche St. Nikolai am Klosterstern stehen sperrangelweit offen, damit es ordentlich durchzieht. Falls hier Viren durch die Luft schwirren, sollen sie sich so schnell wie möglich verdünnisieren und niemanden anstecken. Auch nicht bei der Probe des traditionsreichen Hamburger Knabenchors e. V. am Donnerstagnachmittag.

27 Jungs im Alter zwischen acht und 14 Jahren verteilen sich auf die vorderen Bänke, alle mit einem Stapel Noten in der Hand. „Ihr sitzt zu dicht. In der Schule dürft ihr das, aber hier nicht!“, mahnt Chorleiterin Rosemarie Pritzkat, als vier ihrer Schützlinge kurz ein bisschen eng aufeinander knäueln.

Für Chöre gelten besondere Regeln, weil das Singen viele Schwebeteilchen freisetzt und die Tröpfchen da oft weiterfliegen als beim Sprechen. Die aktu­elle Hamburger Schutzverordnung schreibt deshalb grundsätzlich einen Sicherheitsabstand von 2,5 Metern vor. Gar nicht so einfach, unter diesen Bedingungen zu proben.

Corona reißt ein Loch in den Hamburger Knabenchor

Knabenchor--Leiterin Rosemarie Pritzkat.
Knabenchor--Leiterin Rosemarie Pritzkat. © MARCELO HERNANDEZ / FUNKE Foto Services

„Bald brauche ich ein Megafon, um alle zu erreichen, fürchterlich!“, stöhnt Pritzkat, die vorne am Klavier steht und mit den Sopran- und Altstimmen ihres Chors Stücke wie das Studentenlied „Gaudeamus igitur“ und die Bach-Motette „Jesu meine Freude“ einstudiert. Auch für die Jungs ist das eine Herausforderung, wie der elfjährige Milo erklärt: „In der großen Kirche hallt es mega, wenn man da in der vierten oder sechsten Reihe sitzt, versteht man nicht so viel. Und es ist natürlich ungewohnt, dass man die Nachbarn überhaupt nicht hört.“

Mit diesen Hindernissen haben derzeit viele Chöre zu kämpfen – aber bei den Knabenchören kommt noch ein biologischer Prozess dazu, der an die Sub­stanz geht. „Der Stimmbruch macht ja vor Corona nicht halt“, sagt Rosemarie Pritzkat, die den 1960 gegründeten Knabenchor seit 1991 leitet. „Das Zeitfenster ist klein, in dem wir die Knaben ausbilden können. Wenn sie mit acht in den Ausbildungschor kommen und dann mit zwölf schon die Stimme runtergeht – dann sind das vielleicht vier Jahre, in denen man sie wirklich als Knabe ausbilden kann. Das ist sehr, sehr kurz. Und wenn wir in der Corona-Zeit nicht neue Knaben aufnehmen, obwohl die oben immer abbrechen, dann gibt es ein Riesen-Loch im Chor. Das kann ein ganzer Jahrgang sein, der wegfällt.“

Eine bittere Perspektive und ein heftiger Dämpfer für Pritzkat und ihre jungen Sänger, gerade nach dem Spitzenjahr 2019, mit Japan-Tournee, Senatsempfang und nahezu ausverkauftem Weihnachtsoratorium in der Laeiszhalle.

Fehlende Beiträge bedrohen die Existenz

Normalerweise gehen die Knabenchöre in Schulen, um dort neue Mitglieder zu werben. Aber das war in den vergangenen Monaten durch die coronabedingten Einschränkungen nicht möglich. Außerdem sind viele Eltern gerade zurückhaltender bei der Anmeldung ihrer Kinder als sonst. Deshalb brechen den meisten Knabenchören derzeit mehr Sänger weg als sie neu heranziehen können.

Was auch bedeutet: Es fehlen wichtige Mitgliedsbeiträge. Eine existenziell bedrohliche Situation, die die international renommierten Internatschöre im Osten und Süden der Republik ebenfalls betrifft. Darauf hatten Ensembles wie der Dresdner Kreuzchor und die Regensburger Domspatzen schon im Mai mit einem gemeinsamen Appell hingewiesen.

Beim Neuen Knabenchor Hamburg – 1991 an der Staatlichen Jugendmusikschule ins Leben gerufen – scheint die Lage nicht ganz so dramatisch zu sein. Chorleiter Jens Bauditz wirkt jedenfalls noch relativ gelassen. „Ich bin seit Anfang März sehr pragmatisch geworden“, erklärt der gebürtige Dresdner und ehemalige Kruzianer. „Natürlich ist das gerade eine besondere Zeit, nicht nur für uns, sondern für die ganze Gesellschaft. Vielleicht müssen wir irgendwann eine Lücke füllen, aber das sehen wir dann in zwei bis vier Jahren.“

Distanz macht das Singens schwer

An der Jugendmusikschule mit ihrem großen Miralles-Saal haben Bauditz und seine Sänger sehr gute Voraussetzungen, um auch mit den aktuellen Schutzvorkehrungen gemeinsam singen zu können: „Ich bin hier oft mit dem Zollstock unterwegs, um die Stühle zu stellen. Und im Miralles-Saal passen mit den Abstandsregeln knapp 50 Sänger rein. Also ungefähr die Größe unseres Hauptchors. Das ist Gold wert, dass wir wieder dieses besondere Chorerlebnis haben, wenn alle dabei sind.“

Selbstverständlich ist bei Weitem nicht alles toll. Auch Bauditz spürt die Auswirkungen der Distanz, die es den jungen Sängern mitunter schwer macht. „Es gibt normalerweise eine natürliche Hierarchie im Chor: Die Älteren singen voran, weil sie schon die stimmliche und musikalische Sicherheit haben, die sich erst im Laufe der Jahre entwickelt. Da ist es für die Jüngeren jetzt viel schwieriger anzudocken. Durch die großen Abstände sitzen sie wie auf einer einsamen Insel und driften auch mal ab.“

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Trotzdem ist der Chorleiter froh, dass es für seine Jungs überhaupt wieder möglich ist, in geschlossenen Räumen miteinander zu proben. „Die Lust aufs Singen ist durch die Pause eher noch mehr geworden“, betont Bauditz.

Das ist auch bei der Konkurrenz in St. Nikolai zu spüren. Trotz der schwierigen Umstände genießen die Knaben die Rückkehr zum gemeinsamen Klang, wie der elfjährige Gregory bekräftigt. „Ich hab in der Zeit ohne Chor auch unter der Dusche gesungen – aber es freut mich, dass wir hier endlich wieder zusammen singen können!“

Konzerte: Am Sonntag, 20. September um 15 Uhr singt der Neue Knabenchor Hamburg ein Konzert im Freien, vor der Martin-Luther-Kirche in Trittau. Eintritt frei, Stühle bitte selbst mitbringen. Die nächsten Konzerte des Hamburger Knabenchors sind die traditionellen Auftritte mit Weihnachtsliedern am 12. und 13. Dezember in St. Nikolai.