Hamburg. Die pandemiegerechte Variante sorgt für viel Distanz und wenig Atmosphäre. Bemerkenswerte Konzerte gibt es trotzdem.
„In der Stunde der Tauben, der Stummen der Stunden, Discokugel, letzte Runde“, singt Niels Frevert in seinem Lied „Putzlicht“ beim Auftritt auf dem Reeperbahn Festival. Und der vielleicht beste aller Hamburger Songschreiber ist mit seinen melancholischen, gedankenvollen Texten ein guter musikalischer Kiez-Begleiter.
Putzlicht bezeichnet diese grelle, summende Neonröhren-Beleuchtung, die nach dem letzten Konzert, dem letzten Tanz angeschaltet wird, um Scherben und die letzten Unentwegten hinauszufegen: „Ein Schlager, der im Hintergrund verhallt, Rausschmeißer, Schlussakkord.“
Die ganze Reeperbahn und ihre Seitenstraßen sind derzeit unter Dauerputzlicht, viele Bars, Amüsierbetriebe und Clubs haben geschlossen. Und zwischen den Geöffneten verlieren sich am Donnerstag ein paar Touristen, Punks und die sich wie durch Zellteilung vermehrenden Dealerbanden. Dabei ist hier eigentlich bis Sonnabend Festival angesagt.
Reeperbahn – von Festival ist wenig zu spüren
Da steckt das Wort „Fest“ drin, aber davon ist wenig zu spüren. Normalerweise würden gerade 5000 internationale Branchenvertreter einander die Namensschilder hinhalten. Würden 10.000 und mehr Konzertfans von Clubtür zu Clubtür strömen und Bands ihre Gitarren durch das Kiezwirrwarr aus Erlebnishungrigen, Junggesellenabschieden und Führungen bugsieren. In Konferenzsälen würden neue Trends und alte Anekdoten vorgestellt, und in den Kneipen gäbe es die berühmt-berüchtigten Insidertreffen der Popszene mit Freibier und Gesprächen über Geheimtipps, die bald Staub aufwirbeln sollen.
Solche Treffen gibt es dieses Jahr nur in den Festival-Streamingkanälen. Aber am Ende der Großen Freiheit hat sich auf Einladung einer Musikagentur eine kleine Traube Musiker und Promoter vor dem Eingang eines Bistros versammelt und kennt nur ein Gesprächsthema – Corona und die Folgen –, bis nach einer Stunde Ordnungskräfte anrücken: „Haut ab, das war’s!“, brüllt einer der Einladenden, um die Gästeschar zu zerstreuen.
Der Wind jagt große Staubfahnen über das Festival-Hauptareal auf dem Heiligengeistfeld; ausgelegt wäre es ohne Corona-Auflagen für Tausende. Auch die Spielbudenplatzbühne ist weiträumig abgegittert, zwei Fahrspuren der Reeperbahn sind gesperrt. Der Aufwand ist enorm für nicht mehr als 2500 Besucher pro Festivaltag.
Nach Konzertbeginn wird niemand mehr eingelassen
Die Kapazitäten sind besonders in den Clubs begrenzt. Wer in den Nochtspeicher oder ins Molotow möchte, muss sich früh anstellen, um einen der 40, 50 Sitzplätze zu ergattern. Sobald das Konzert begonnen hat, kommt niemand mehr hinein. Dafür wird man nach einer Stunde Wartezeit empfangen wie ein Stargast: Höflich bittet das Nochtspeicher-Team, sich mit dem Handy am Eingang mit ausgehängtem QR-Code zu registrieren und die Hände zu desinfizieren, dann wird man in den Saal geführt und zum Tisch geleitet – inklusive Erklärung des Prozedere in Sachen WC-Gang und Getränke (Service am Tisch). Das Personal gibt sich – mal liebevoll, mal resolut – größte Mühe, nie den Anschein zu erwecken, man vernachlässige die immer wieder kommunizierten Regeln.
Es muss aufreibend sein, Hunderte Male die gleichen Sätze zu wiederholen, die Augen überall zu haben, eine Mischung aus Gastgeber und Aufpasser zu sein. Wer mit den Crews, Betreibern und Bands spricht, hört sowohl Depression als auch Trotz heraus, spürt aber keine Festivalatmosphäre. Die Stimmung ist gedrückt, und die Newcomerbands haben es natürlich schwerer, das Publikum zu überzeugen als zum Beispiel Johannes Oerding oder Selig, die gerade im Stadtpark vor ihren treuesten Fans spielten.
Mehr als drei Konzerte sind nicht zu schaffen
Aber auch das Reeperbahn Festival hat bei allen Einschränkungen große Momente. Die in Belgien lebende niederländische Sängerin und Bassistin Eefje de Visser liefert im Nochtspeicher ein grandioses Konzert ab. Mit ihrer ungewöhnlich aufgestellten Band mit zwei Backgroundsängerinnen, ebenfalls singender Keyboarderin, einem Gitarristen und einem Schlagzeuger präsentiert sie dramatische, packende Dream-Pop-Klangwelten, die einen die Corona-Umstände vergessen lassen – zu Recht für den Festival-Preis Anchor nominiert.
Danach hat einen die Wirklichkeit wieder. Tischweise werden die 44 Gäste entlassen, checken aus und schauen auf den Handys, was als Nächstes zu erleben ist.
„Verlassene Wege, gebeugte Laternen“, singt der innere Niels Frevert beim Marsch zum Molotow. Hier stehen schon die Ersten für den Auftritt von Arya Zappa an, die in 90 Minuten auf die Bühne im Saal gehen wird. Andere warten auf Ilgen-Nur im Molotow-Innenhof. In normalen Jahren würde man vielleicht woanders sein Glück versuchen, aber jetzt wird ausgeharrt, mit Glück in Übergangsjacke, mit Pech in kurzer Hose. Und es lohnt sich: Die Berlinerin Arya Zappa alias Maral Salmassi und ihre Band entwickeln einen bezaubernden, extraordinären Sound zwischen David Bowie und Annie Lennox. Ein weiterer heißer „Anchor“-Tipp.
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Und das war es dann leider schon. Mehr als zwei, drei Konzertbesuche pro Abend sind unter diesen Bedingungen nicht zu schaffen. Aber auch dazu hat Niels Frevert eine perfekte Zeile: „Schein herab auf mich, und bring mich raus hier, Putzlicht.“