Hamburg. Bis Sonnabend sollen insgesamt 120 Konzerte auf 20 Bühnen stattfinden. Wegen der Corona-Krise ist dieses Jahr vieles anders.

Auf den ersten Blick ist alles wie immer am Mittwoch, dem Auftakttag des Reeperbahn Festivals 2020: In den Vorjahren war dieser Tag stets der entspannteste und übersichtlichste mit lediglich einer Handvoll Konzerten zum Reingrooven und mit vergleichsweise wenig Gedrängel. Und auch in diesem Jahr geht es unaufgeregt zu, als die Hamburger Sängerin und Gitarristin Lùisa auf der Bühne auf dem Spielbudenplatz vor 70 Zuschauenden in die Saiten greift.

Und doch geht der innere Blick dabei gleich zurück in das Jahr 2013: Damals trat Lùisa beim Reeperbahn Festival in der zum Bersten gefüllten, bierdunstschwangeren und schweißvernebelten Pooca Bar auf. Drinnen klebte die Nase am nassen Nacken des Vordermannes, draußen bildeten sich Menschentrauben und viele warteten auf eine Gelegenheit, sich noch reinzuquetschen.

Reeperbahn Festival: Viele Verluste wegen Corona einkalkuliert

Einer der klassischen Festivalmomente, die es so 2020 nicht geben wird. Die es nicht geben darf. In diesem Jahr tritt Lùisa wie viele weitere Künstlerinnen, Musiker und Bands unter freiem Himmel auf. Immerhin: Es ist erlaubt, ihr in sorgsam markierten Bereichen vor der Spielbude stehend zuzuhören.

„Pandemiegerecht“ ist das Stichwort für den diesjährigen Musikmarathon, der bis Sonnabend Lebenszeichen und Leuchtfeuer für einen derzeit darniederliegenden Verbund der Kulturen und Subkulturen, sprich Popmusik und alles was mit ihr arbeitet, lebt und liebt, sein soll. Dafür haben die Veranstalter und die Beteiligten aus Branche, Wirtschaft und Politik beträchtliche Einschnitte und Verluste einkalkuliert: Waren im vergangenen Jahr für 50.000 Besucher mehr als 600 Konzerte und Hunderte weitere Veranstaltungen zu erleben, so wurde der Programmumfang dieses Jahr für 8000 Besucher auf 120 Konzerte, 20 Bühnen (fünf davon open air) und 30 Literatur- und Filmangebote reduziert.

Bands aus außereuropäischen Ländern kommen nicht, stattdessen liegt der Fokus auf heimischen Talenten und der seit Jahren beeindruckend aufstrebenden Popnation Dänemark. Die Fachbesucher-Konferenzen, sonst ein Tummelplatz für Vertreter internationaler Labels, für Exportbüros, Agenturen und Veranstalter, wurden ins Netz verlagert: Auf acht Streaming-Kanälen bereden die Gestalter der Popszene Themen wie „Status quo Deutschrap“, „Geschäftsmodell Podcast“ und natürlich auch „Ticketing in Pandemiezeiten“.

Scholz sagte Teilnahme an Eröffnung des Festivals spontan ab

Dass in diesem Jahr überhaupt ein Reeperbahn Festival über die Bühnen gehen kann, ist Ergebnis monatelanger, aufreibender Ideensammlungen, Diskussionen und auch von reichlich Lobbyarbeit. Das fing bei der Entwicklung von Hygienekonzepten besonders für die bestuhlten Clubkonzerte bei radikal reduzierten Kapazitäten in Knust, Nochtspeicher, Mojo Club, Molotow und Uebel & Gefährlich an, reichte über die Schaffung von technischen Kapazitäten für Streaming und QR-Code-Registrierungen an den Eingängen bis zu Fragen der Finanzierung. Drei Viertel des Gesamtetats von 2,5 Millionen Euro kommt aus Bundes- und Landesmitteln.

Die angekündigten Gäste aus der Politik bei der Eröffnungsshow am Mittwoch im Operettenhaus, Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz sowie Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda, sind also in gewisser Weise die Co-Veranstalter des Reeperbahn Festivals. Wobei Scholz seine Teilnahme wenige Stunden vor seinem geplanten Grußwort absagte: Erkältungssymptome.

Bei allen Sorgen, Nöten und Hilferufen, die die Veranstaltungsbranche seit Monaten mit zahlreichen Initiativen, Aufrufen und Demonstrationen an die Öffentlichkeit trägt, ist das ein beachtenswertes Zeichen. Welcher hochrangige Politiker hatte sich 2006, dem holprigen Premierenjahr des Reeperbahn Festivals, überhaupt für Pop als Kultur- und Wirtschaftsfaktor interessiert?

Musiker und Konzertveranstalter brauchen eine echte Perspektive

Natürlich sieht es besonders außerhalb der Musikgroßstädte Berlin, Hamburg und Köln übel aus, und die Betroffenen – vom großen Konzertveranstalter bis hin zur Toningenieurin in Ausbildung – brauchen nicht nur verlässliche finanzielle Unterstützung, sondern eine echte Perspektive, eine Aufbruchsstimmung. Dieses Festival soll so ein Aufbruch ins hoffentlich bald nicht mehr ganz so Ungewisse sein.

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„Das Reeperbahn Festival ist ein Symbol dafür, was möglich ist, wenn wir es wollen“, sagt Carsten Brosda auf Englisch bei seiner Begrüßung im Operettenhaus. „In diesen Corona-Zeiten müssen wir aufstehen und Verantwortung übernehmen für unsere Kreativwirtschaft, für Kunst und Kultur, für die Clubs, Plattenfirmen, Konzertveranstalter, Bühnentechniker, Verlage und natürlich die Musikschaffenden.“ Brosda appelliert an Gesellschaft und Politik, Solidarität zu zeigen, die Betroffenen bei ihrem beruflichen Überlebenskampf zu unterstützen. „Das Reeperbahn Festival ist ein Lebenszeichen.“

2000 Festivalgäste pro Tag werden erwartet

Nach den wohlgesetzten Worten geht es an die mehr oder weniger lauten Taten: zur Band Die Arbeit im Nochtspeicher, zu Paar im Molotow oder zu Bukahara im Festival Village. Der Kiez wird bei etwa 2000 Festivalgästen pro Tag nicht der sonst übliche Tummelplatz der Musikwelt sein, die sich hier mit dem St.-Pauli-Trubel vermischt.

Es ist stiller als aus den Vorjahren gewohnt an diesem Mittwochabend, aber bis Sonnabend gewiss immer wieder laut genug, etwa bei den Auftritten der Nominierten für den Festivalpreis „Anchor“, bei Arya Zappa, Ätna, L’Eclair, Suzane, Tuvaband, Eefje de Visser und vielen weiteren Entdeckungen der europäischen Musikszene.

Bleibt zu hoffen, dass sie alle auch nach dem Festival weiter live spielen können. Nicht nur in Hamburg.

Reeperbahn Festival Programm und Tagestickets unter reerbahnfestival.com.