Hamburg. “Tyll“ ist im Ernst Deutsch Theater spielfreudig erzählt, führt aber auch die fehlende Nähe vor Augen. Die aktuelle Kritik.
„Nicht sterben ist besser!“, betont Sven Walser am Ende, bevor er ein gigantischer Schatten wird. Unsterblich ist er ohnehin längst, zumindest als mythische Figur: Tyll Ulenspiegel, also Till Eulenspiegel. Jüngst wiederbelebt vom Bestsellerautor Daniel Kehlmann in seinem Roman „Tyll“, den viele für seinen besten halten. Nun hat der Hamburger Regisseur Erik Schäffler das 480-Seiten-Werk für die Bühne eingedampft und eröffnet mit der Premiere die neue Spielzeit am Ernst Deutsch Theater.
Erstmals hebt sich damit der Vorhang des Privattheaters „nach fünf langen Monaten“, wie Intendantin Isabella Vertés-Schütter eingangs sichtlich bewegt verkündet. Im Saal ist jede zweite Reihe entfernt und zwischen den Sitzenden viel Abstand, nur 185 der 743 Plätze sind belegt. Auf der Bühne setzt Schäffler ganz auf den volkstümlichen Charakter des ereignisreichen und sprachmächtigen Stoffes, der im 17. Jahrhundert beginnt und ein opulentes Panorama der Wirren des Dreißigjährigen Krieges entfaltet.
Anders als der Ruf, der dem historischen Till Eulenspiegel aus dem 14. Jahrhundert vorauseilt, ist Tyll gar kein Schelm. Er ist ein Freigeist, ein Gaukler, Künstler, Seiltänzer und Messerwerfer, der zum Hofnarren wird und durch die Zeitläufe, ihre Mächtigen und ihre Kriege hindurchtänzelt. Dieser Tyll ist nicht wirklich gesellschaftsfähig, eher vorzivilisiert, aber trotzdem liebenswert. Er erlaubt sich derbe Späße und wird zum Spiegel wechselnder Herrscher auf seinem Weg. In der heutigen Welt könnte er vielleicht ein „Joker“ sein.
Ernst Deutsch Theater – der Vorhang gibt eine untergegangene Welt frei
Doch Anspielungen solcher Art finden sich in diesem Abend nicht. Der Vorhang gibt eine untergegangene Welt frei. Timo von Kriegsteins Bühne hat etwas Urzeitliches. Viel Holz, ein Hochsitz, ein Podest, das mal einen Eselskarren, mal ein Dorfhaus behauptet. Sylvia Wankes Kostüme zitieren die Historie ganz direkt mit Pumphosen, knittrigen Hemden, Westen und ländlichen Kleidern.
Es ist ein tolles achtköpfiges Ensemble, das sich hier durch 40 Rollen und allerlei Abenteuer spielt. Wohltuend auch, dass Schäffler auf eine Erzählerfigur verzichtet und alle Geschehnisse aus den Figuren heraus erzählt. Das rettet über manche Länge hinweg. Denn „Tyll“ ist auch eine überbordende, eigentlich anmaßende Geschichtsfiktion. Der Teil, der sich um Tylls Kindheit dreht, ist von Schäffler im Vergleich arg ausufernd erzählt. Außerdem setzt er in mancher Szene allzu deutlich aufs Derbe, Volkstümliche. Aber immer, wenn die Inszenierung beim Kunstgewerbe zu landen droht, gelingt den Spielern doch noch der Balanceakt. Das gilt auch für den sprechenden Esel und die tanzenden Pesthauben.
Sven Walser hat sich als der ältere Tyll bestens eingerichtet
Axel Pätz steckt als Bänkelsänger den historischen Kontext ab. Sven Walser als der ältere Tyll hat sich in seiner Rolle als irrlichternder, abgeklärter Außenseiter mit Narrenkappe bestens eingerichtet. Wie er dazu wurde, kann man an Rune Jürgensens jungem Tyll beobachten, der überzeugend einen „Herrn der Luft“ verkörpert, einen Freiheitsliebenden, übellaunigen, modernen Narren, der sich eher als widerständiger Gruselclown in finsteren Zeiten Seuchen, Krieg und Inquisition entgegenstellt. Ein Unbeugsamer im Angesicht des um ihn tobenden Irrsinns.
Als sein Vater Claus, Müller und Philosoph, geradlinig gegeben von Frank Jordan, zwei Hexenjägern zum Opfer fällt, strebt Tyll nach England. Und will Nele, die liebenswerte Tochter des Bäckers mitnehmen. Ines Nieri stattet sie mit einer anrührenden Lebenssehnsucht, aber auch viel Schlagfertigkeit aus. Die Abschiedsszene zwischen ihr und Tyll, als sie am Ende den gutmütigen Olearius heiratet, zählt zu den intensivsten des Abends, auch über den meterweitem Abstand hinweg. Der tut nicht allen Szenen gut, sorgt bisweilen für statisches Herumstehen, aber das lässt sich derzeit wohl kaum vermeiden.
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Als Tyll als Hofnarr bei dem ins Exil verbannten Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen landet, deren Krönung die Glaubenskriege entzündete, setzt Erik Schäffler auf einen Kunstgriff. Den exzentrischen, bei Maximilian von Mühlen etwas ausgestellten Exilkönig doppelt er in einer Puppe, die ein wenig Nähe und Berührung erlaubt, dabei aber auch vor Augen führt, wie sehr in der Kunst zur Zeit natürlich beides fehlt. Zwischen den Küssen von Tyll und Nele liegt noch immer mehr als ein Meter. In der höfischen, von Sylvia Wanke mit schöner, moderner Eleganz ausgestatteter Reifrock-Welt glänzt Mignon Remé als Elisabeth mit kluger Grandezza und dosierter Überheblichkeit.
Tyll entspringt einer Welt des Fantastischen, der Fabulierlust
Zur gewagten Fusion aus Historie und Fiktion gesellt sich ein erstaunlich detailfreudig geschilderter magischer Realismus. In dieser Welt erscheint es ganz selbstverständlich, dass ein Drakontologe auftritt, der den letzten Drachen der Holsteinischen Ebene ausfindig machen will. Das ist verwegen, aber irgendwie auch schön.
„So kennen wir ihn Tyll Ulenspiegel,/so lebt er in uns fort./Doch auch wer nicht stirbt und ewiglich lebt,/wer sich über Zeiten und Räume erhebt,/der stammt von irgend’nem Ort,/Von irgend’nem Ort“, singt Axel Pätz’ Bänkelsänger. Was Tyll betrifft, so entspringt er einer Welt des Fantastischen, des Parabelhaften und der Fabulierlust, der sich diese Inszenierung auf gezielte, fast altmodische Weise hingibt. Jeder, der das schätzt, wird an ihr seine Freude finden.
„Tyll“ bis 26.9., Ernst Deutsch Theater, Karten unter T. 22 70 14 20; ernst-deutsch-theater.de