Hamburg. Das Hamburger Indie-Duo Ivy Flindt hatte große Pläne und beste Aussichten, dann kam die Pandemie. Doch es gibt Grund zur Hoffnung.

„Give It A Break“ – mach mal Pause. Daran ist vor einem Jahr noch nicht zu denken in einer in mehrfacher Hinsicht dicht gefüllten Kneipe beim „XpoNorth“-Festival im schottischen Inverness. Ein vermeintlich schwieriges Publikum für eine Hamburger Band wie Ivy Flindt, die schwelgerische, dramatische, verträumte Melodiebögen entwirft und aus dem aus internationaler Pop-Perspektive eher uncoolen Deutschland kommt.

Aber das Publikum ist überaus angetan, und Cate Martin und Micha Holland sind noch voller Adrenalin, als sie hastig ihre Instrumente zusammenpacken, um Platz für die nächste Band zu machen. Ein Mann, der sich als Produzent vorstellt und seine Telefonnummer anbietet, wird von Cate freundlich, aber bestimmt vertröstet. Sie bräuchten gerade keinen Produzenten, danke.

Fünf Tage vor Abflug lief alles anders: Corona

Zum Glück darf Danton Supple, eine Londoner Koryphäe am Mischpult mit Referenzen wie Coldplay, David Bowie, Pet Shop Boys, The Cure und U2, trotzdem seine Nummer in Cate Martins Notizbuch kritzeln. Eine weitere in Inverness eingetragene Nummer gehörte einem Agenten des „Musexpo“-Festivals in Hollywood. Zu diesem traditionsreichen Branchenevent werden jährlich nicht mehr als 20 internationale Newcomerbands eingeladen, um sich vorzustellen. Reamonn und Katy Perry waren es unter anderem in der Vergangenheit, Ivy Flindt wäre es im März dieses Jahres gewesen. Als Auftakt für einen aufregenden Frühling und Sommer. Doch fünf Tage vor dem Abflug nach Los Angeles kam alles ganz anders. Dank Corona.

Einziger verbliebener Termin: 2021 in der Elbphilharmonie

„Von Dezember bis März waren wir am Rotieren, haben mit der Band geprobt und die Reisen vorbereitet“, erzählt Micha Holland beim Treffen im Kunstbuch-Verlag Gudberg Nerger in der Neustadt, der die Buchedition des Ivy-Flindt-Debütalbums „In Every Move“ vertreibt. 2008 hatte sich das Duo an der Hamburger Musikhochschule kennengelernt, die ersten Jahre trat es unter dem Namen Cate’s Leila auf. Die Kritiken nach der Umbenennung in Ivy Flindt und dem ersten Album waren hervorragend, und statt sich weiter auf lokale Clubgigs zu beschränken, waren Ivy Flindts Ambitionen von Anfang an international. Die beiden vertreiben „In Every Move“ auf ihrem eigenen Label Marland Records, vertrauen auf ihre künstlerische Vision und etwas Glück: Cate Martin wollte unbedingt den Cardigans-Produzenten Per Sunding aus Schweden für das Album, schrieb eine freundliche E-Mail mit angehängtem Demo – und hatte Erfolg.

Talent und Glück sollten auch nach Los Angeles führen, „das wäre der nächste große Schritt gewesen“. Neben zwei Auftritten in Hollywood und einem Konzert in Laguna Beach waren bis Mai Auftritte beim „The Great Escape“ in Brighton, Großbritannien, beim „Live At Heart­“ in Neufundland, Kanada und beim „Spot“-Festival im dänischen Aarhus geplant. El Dorados für die Talentsucher der Musikindustrie. Radiokampagnen waren vorbereitet, Flüge und Vans gebucht.

„Wir sind seit Jahren auf dieser Rampe unterwegs, die uns aufwärtsführen soll. Und dann die Vollbremsung. An dem Abend, als James Blunt alleine in der leeren Elbphilharmonie sang, kamen die ersten Absagen. Ironischerweise ist der letzte verbliebene Termin unser Konzert am 9. April 2021 in der Elbphilharmonie“, sagt Cate Martin. Micha Holland schnippst mit den Fingern: „Vorbei. Und man kann niemanden drankriegen dafür.“

Die Bedingungen für Indie-Bands waren schon vor Corona schwierig

So groß die Vorfreude, so groß die Enttäuschung. „Wie ein Pendel, das erst in die eine Richtung und dann in die andere Richtung ausschlägt“, beschreibt es Martin, „das muss man dann auch erst mal zulassen.“ Die Musikwelt stand still, und die wirtschaftliche Situation wurde noch schwieriger als ohnehin schon: „Die Bedingungen sind auch ohne Corona hart. Sehr hart. Künstler und Künstlerinnen wurschteln sich da nicht irgendwie durch, die kalkulieren ganz genau, um es schaffen zu können: Fixkosten runter, Prioritäten setzen“, berichtet Cate­ Martin vom aufreibenden Alltag einer Indie-Band.

Nach kurzem Innehalten arrangierten sich die beiden mit den neuen Umständen. „Wir haben dann überlegt: Wenn wir nicht reisen können, wie können wir die Musik auf Reisen schicken?“, erzählt Holland vom pandemiegerechten Neustart. Eigentlich wollte Ivy Flindt in Hollywood mit Pete Lawrie Winfield, der den Clip für Didos Lied „Hurricanes“ inszeniert hatte, ein Video für eine neue Single aufnehmen. Das wurde nun für den Song „Give It A Break“ über Tausende Meilen hinweg und über digitale Kanäle mit ihm erarbeitet. Und statt in Los Angeles musste eben daheim gefilmt werden. „Warum nach L. A. reisen, wenn man auch nach Boberg fahren kann? Nein, im Ernst, dort gibt es ja diese geheimnisvolle Dünenlandschaft, diese Weite, die passte gut zu dem Song. Und es war auch eine Lektion: Arbeite mit dem, was du hast, deiner inneren künstlerischen Vision verpflichtet.“

Ivy Flindt verarbeitete die Pandemie in Wort, Bild und Ton

So erschien „Give It A Break“ als Single-Auskopplung im Mai und passt thematisch ausgesprochen gut zum Zeitgeist: „Es ist okay, nicht immer alles lösen zu können. Dein Schmerz und dein Sehnen erzählen vor allem von deiner eigenen Lebendigkeit“, fasst Martin das Lied zusammen. Das Vermissen von Begegnungen, von Orten, Gefühlen und Freiheiten mache erst bewusst, wie erfüllend sie waren und gewiss auch wieder sein werden – ganz unabhängig von Corona.

Im Juni dann entstand auf Initiative des europaweiten Netzwerks Excite Music Network und von Rockcity Hamburg der Track „Are We Moving Forward“, als Kollaboration mit der niederländischen Band Woe Blind Birds. Eine Kompositionsaufgabe zum Thema Corona, die den bisherigen Pandemie-Höhepunkt in New York und die entsprechenden Bilder künstlerisch verarbeitet. Cate Martin erläutert: „Es war, wie eine Filmmusik zu schreiben. Wir haben uns zunächst auf eindringliche Bilder verständigt und diese dann versucht zu vertonen, die Schreckensszenen aus New York: die Trucks, die tote Körper kühlen, ein New York, das nicht mehr Sehnsuchtsort ist, sondern zum Ort des Schreckens wurde. Das machte auch noch einmal deutlich: Ja, wir sind in einer Krise. Aber uns geht es gut, denn wir sind gesund. Und es war ein neuer ungewohnter Weg zu arbeiten: Auf ein Ereignis von außen hin die Arbeit zu beginnen und nicht von innen aus sich selbst heraus.“

Streaming bietet eine Bühne, wenn auch ohne den Zauber der Begegnung

Ein erstes Streaming-Konzert hat Ivy Flindt Anfang Juli für das Online-TV-Format One Hamburg gegeben. „Wir fragten uns: Wie spielen, ohne Publikum? Live-Musik ist ein vereinender Zauber, im Konzert gibt es diese Momente, in denen sich alle einander nah fühlen, Musik schafft ja diesen Raum für Begegnungen. Aber es ergab sich, dass eine kleine, feine Crew aus maskierten Freunden und Mitarbeitern dabei war. Still und heimlich, ohne Applaus. Bis zum letzten Song haben alle durchgehalten, dann flog es aber doch auf“, lacht Martin.

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Ein weiteres Online-Konzert ist in Vorbereitung, Ivy Flindt hat hinter den Kulissen gut zu tun, es kehrt Struktur zurück. Zwischendurch zieht es Micha Holland zur Fotografie („Ich habe keinen Plan dabei, aber immer eine Kamera.“) und Cate Martin in die Natur. Sie liebt eigentlich das extreme Naturerlebnis, wochenlang mit Zelt und Rucksack zu den Vulkanen Neuseelands, wo ihre Familie lebt. Jetzt findet sie Ausgeglichenheit beim Anlegen eines Gemüsegartens. „Wie aus einem Samenkorn eine Pflanze erwächst, die dich ernährt. Das zu sehen ist einfach anrührend.“

Das Happy End wartet: ein „Rockpalast“-Auftritt

In jedem Samenkorn steckt Hoffnung, und tatsächlich nimmt auch dieser Sommer für Ivy Flindt nun plötzlich Fahrt auf: Cate Martin, Micha Holland und ihre Begleitmusiker (Keyboarder Chris Haertel und Schlagzeuger Lars Plogschties) proben wieder, weil Großes ansteht. Der legendäre WDR-„Rockpalast“ will im September eine Show mit Ivy Flindt aufzeichnen und bereits im Oktober ausstrahlen. Auch wenn es so enttäuschend begann, vielleicht wird 2020 ja doch noch ein in positiver Hinsicht prägendes Jahr für dieses Duo.