Hamburg. Für die Adaption des Buchs „Tyll“ proben Regisseur Erik Schäffler und Ines Nieri zusammen – erstmals nach 20 Jahren.

Endlich wieder große Bühne! Es ist einer der ersten Probentage im seit Monaten geschlossenen Ernst Deutsch Theater (EDT). Die Kulisse ist noch in der Mache, ebenso das Stück. Wenn in diesen Zeiten aber sieben von acht beteiligten Schauspielern auf den Brettern zu Werke gehen, bahnt sich Großes an. Mit viel Aufwand und genug Abstand.

Die Dramatisierung von „Tyll“, dem Roman Daniel Kehlmanns, wird am Donnerstag die neue Spielzeit eröffnen. Regie führt erstmals am Ernst Deutsch Theater Erik Schäffler, er hat seine eigene Version zu „Tyll“ erstellt. Kehlmann versetzt in seinem Roman den bekannten Gaukler Tyll Ulenspiegel 300 Jahre weiter in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs (1618–1648), als unter Protestanten und Katholiken nicht Covid-19, sondern die Pest wütete. Ein Tanz auf dem Seil für den Regisseur, aber auch für die Schauspieler – wie Ines Nieri. Beide werden beim Pausengespräch ungeahnt Neues voneinander erfahren.

Coronagerechte Länge von zwei Stunden

Das Stück auf eine coronagerechte Länge von maximal zwei Stunden plus Pause zu bringen ist für Schäffler eine zusätzliche Herausforderung – Kehlmanns Roman hat fast 500 Seiten. Mit seiner Fassung sei der Autor „sehr einverstanden“, hat der Theatermann vom Rowohlt Verlag gehört. Es ist nicht seine erste Begegnung: Schäffler kann Kehlmann. Das hatte er im Herbst 2017 gezeigt, als er den Roman „Ruhm“ als deutsche Erstaufführung herausbrachte. Das war indes im kleinen Theater im Zimmer, und „Ruhm“ ist ein vergleichsweise dünnes Buch, dessen neun verschachtelte Episoden Schäffler zu sieben verdichtete. Eine der Rollen übernahm er selbst.

Acht Schauspieler in 40 Rollen

Im Ernst Deutsch Theater spielen jetzt acht Frauen und Männer insgesamt 40 Rollen. Es gehe um Überlebensstrategien, so der Regisseur. „Da die Welt auf dem Kopf steht, geht Tyll aufs Seil. Damit erhebt er sich nicht über die Welt, aber er steht gewissermaßen über ihr. Tyll überlebt sämtliche Krisen, die Pest, den Krieg. Und bleibt nicht nur Mensch, sondern wird dadurch geradezu zu einem“, beschreibt Schäffler die Essenz.

Und wie zeigt sich dieser Tyll auf der Bühne? Zweifach. Schäffler lässt den jungen und den älteren Tyll, gespielt von Rune Jürgensen und Sven Walser, zeitweise sogar nebeneinander agieren. Zudem gibt es starke Frauenfiguren.

Spätestens hier kommt Ines Nieri ins Spiel. Sie hat als Nele in etwa gleich viele Parts mit dem jungen und dem älteren Tyll. Als Bäckerstochter flieht sie mit Jung-Tyll, nachdem sein Vater im Dorf hingerichtet wurde. „Nele ist emotional intelligent und lässt sich von niemandem etwas bieten“, sagt Nieri. „Die Frauenfiguren sind im ,Tyll‘ fast stärker als manche Männerrollen“, meint Schäffler.

Auf der Bühne wird Tyll von zwei Schauspielern gespielt

Dank ihrer Präsenz war ihm Ines Nieri immer aufgefallen. Gewiss, die 32-Jährige deckt mit ihrer zierlichen Statur ein Spielalter von zwölf bis 30 Jahren ab. Obwohl das beim Epos „Tyll“ ein wichtiger Aspekt ist, war es für Schäffler nicht der Hauptgrund, sie zu besetzen: „Ich kenne kaum eine Kollegin, die so engagiert ist wie Ines“, sagt er. Vor einem Jahr spielte Nieri unter Volker Lechtenbrinks Regie in Shakespeares „Was ihr wollt“ als Viola ihre erste weibliche Hauptrolle am Ernst Deutsch Theater. Zuvor war Erik Schäffler im Sprechwerk auf sie aufmerksam geworden: Am Off-Theater in Borgfelde gehört Nieri seit Jahren zum Ensemble der „Wortgefechte“-Reihe, kürzlich wieder in Alan Ayckbourns Komödie „Halbe Wahrheiten“.

Doch Ines Nieri macht keine halben Sachen. „Ich wollte schon als Kind zur Bühne“, sagt die Hamburgerin. Als Mädchen besuchte sie Deutschlands erste Kinderschauspielschule Task, spielte 1999 ihre erste Filmrolle in „Die Beichte“, dann in „Die Pfefferkörner“, machte viel Film und Fernsehen, ehe sie 2014 am EDT in der Sozialfarce „Jumpy“ ihr erstes Engagement nach ihrem Schauspielstudium hatte. „Gefühle, der emotionale Austausch mit den Kollegen und dem Publikum“, das ist es, was sie am Theater reizt. Auch in diesen schwierigen Zeiten.

„Erik kann sehr klare Ansagen machen“, berichtet die Schauspielerin über Schäffler, „gleichzeitig lässt er uns alle Freiheiten.“ „Tyll“ ist ihre erste gemeinsame Theaterarbeit. Sie sagt: „Er ist jederzeit auf Augenhöhe mit jedem. Er schafft schnell emotionale Bilder.“

Zusammenarbeit schon vor 20 Jahren

Auf bewegten Bildern gibt es Ines Nieri und Erik Schäffler übrigens schon: Vor exakt 20 Jahren haben beide einmal zusammengearbeitet, für den Kinofilm „Der Mistkerl“. Als sie jetzt im Foyer stehen, kann sich Nieri besser erinnern als Schäffler: „Ich war nur einen Drehtag dabei, sie aber spielte die Kinder-Hauptrolle.“ Während Klein-Ines am Set alles aufsaugte, hatte Schäffler es fast vergessen.

Nieris Wunsch, Schauspielerin zu werden, stand da längst fest. Sie hatte 1999 in Luk Percevals legendärer Marathon-Inszenierung „Schlachten!“ auf der Schauspielhaus-Bühne gestanden. „Was, da warst du dabei?“, staunt Schäffler. Der seit Anfang der 90er in Hamburg lebende gebürtige Schwabe sollte selbst erst ein Jahrzehnt später am Deutschen Schauspielhaus engagiert werden.

Sonderpreis Hamburg Rolf Mares 2018

Umso intensiver hat Ines Nieri anschließend Schäfflers Arbeit als freischaffender Schauspieler verfolgt, am EDT etwa zuletzt als Herbert Wehner in „Demokratie“, hat ihn als Teufel und langjährigen Regisseur beim „Hamburger Jedermann“ in der Speicherstadt erlebt, außerdem seine Arbeit an zeitgeschichtlichen deutschen Stoffen mit dem Axensprung Theater. Für seine außergewöhnlichen Leistungen erhielt Erik Schäffler den Sonderpreis beim Theaterpreis Hamburg Rolf Mares 2018.

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Das aber macht weder den Regisseur (59) noch die 27 Jahre jüngere Hauptdarstellerin satt und zufrieden: „Ich bin bei mir angekommen und habe mich weiterentwickelt“, sagt Ines Nieri. „Ich merke jetzt, dass ich die meinem Alter entsprechenden Rollen bekomme.“ Auch dank Erik Schäffler. Und so macht dieser „Tyll“ längst nicht allein, was er will.

„Tyll“ Premiere Do 20.8., bis 26.9., jew. 19.30, Ernst Deutsch Theater (U Mundsburg), Friedrich-Schütter-Platz 1, Karten zu 42,-: T. 22 70 14 20; www.ernst-deutsch-theater.de