Hamburg. Generalmusikdirektor Kent Nagano übers Dirigieren. In seiner Meisterklasse trainierte er den Nachwuchs.
Der Flötentriller bohrt sich förmlich ins Gehirn. Um ihn herum rankt sich eine Klarinettenmelodie, aber sie schlägt manchmal urplötzlich Widerhaken. Gemütlich ist es nicht, Strawinskys Ballett-Suite „Le sacre du printemps“ zuzuhören. Schließlich fällt sie gleichsam in den Keller des Orchesters: Die Bässe liefern das Fundament zu langsamen, zähen, beschwert klingenden Tonwiederholungen bei den Streichern.
Der junge Mann am Pult schlägt den Takt federnd und klar. Als die Bratschen zu einem Klagegesang anheben, bricht er ab. „Das war ein bisschen laut“, sagt er zum Tutti. „Spielt weniger massiv. Wir beginnen nochmal bei Ziffer 49.“ Aber anstatt sogleich den Einsatz zu geben, fährt er fort: „Celli, Bässe und Fagotte, stellt euch vor, ihr wollt den Ton lang machen“, und singt es vor.
Nagano äußert Kritik auf hohem Niveau
Da tritt jemand von der Seite an ihn heran, berührt ihn an der Schulter und sagt leise: „Zeigen Sie mit Ihren Händen, was Sie wollen. Wenn Ihre Geste die gleiche Geschwindigkeit hat wie die musikalischen Bögen, können die Musiker leichter fühlen, welche Textur die Stelle haben soll.“
Kent Nagano äußert Kritik auf hohem Niveau. Nicolas Kierdorf ist zwar erst 25 Jahre alt, aber den Master im Fach Dirigieren hat er schon in der Tasche und einen vierten Platz bei dem Wettbewerb Deutscher Dirigentenpreis dazu. Mittlerweile ist er im Aufbaustudium bei Ulrich Windfuhr an der Hamburger Musikhochschule. Mit drei anderen aus Windfuhrs Klasse nimmt er an einer Masterclass von Nagano teil.
Unter Anleitung des Hamburgischen Generalmusikdirektors proben sie mit dem Symphonieorchester der Hochschule für Musik und Theater Hamburg (HfMT). Die institutionelle Zusammenarbeit mit dem Philharmonischen Staatsorchester geht noch weiter: Einige Philharmoniker haben Stimmproben mit dem Hochschulorchester gemacht. Was zu hören ist; das Orchester ist exzellent vorbereitet.
„Masterclass“? Nicht die Idee von Nagano
An diesem Vormittag ist man noch unter sich. Die Ränge im Forum der HfMT sind kaum besetzt. Windfuhr sitzt in der ersten Reihe und liest in der Partitur mit. Ab und zu streckt er unwillkürlich eine Hand aus oder bewegt sich zu einer Passage, als stünde er selbst am Pult. Im Hochschulalltag erklärt er den vier jungen Leuten, wie Dirigieren geht, nun hört er selbst zu.
Das Unterfangen „Masterclass“ zu überschreiben, war nicht Naganos Idee; er hat nach eigenem Bekunden nie zuvor eine gegeben. Er nennt es Werkstatt, und genau das ist das Faszinierende daran. Im Vergleich wird es erst deutlich, dass jeder der vier Teilnehmer seinen Stil hat. Kierdorf und sein ebenfalls fortgeschrittener Kommilitone Yu Sugimoto lassen bereits ausgeprägte dirigentische Handschriften erkennen.
Im Gespräch mit den Kandidaten macht Nagano ihnen Dinge bewusst, auf die ein Orchestermusiker normalerweise intuitiv reagiert. Schraubt sich die linke Hand empor, ist das eine Einladung, lauter zu werden. Sie kann aber auch mit einer dämpfenden Geste die Klangfarben beeinflussen.
Wie gleichzeitig schreiben und Zähne putzen
Und dann die Unabhängigkeit der Hände: Immer wieder kommt Nagano auf sie zu sprechen. „Wenn Sie mit links die gleiche Bewegung machen wie mit rechts, wirkt das wie eine Bekräftigung“, erklärt er der Chinesin Kerou Liu, die gerade erst aus Shanghai zum Masterstudium nach Hamburg gekommen ist, und fügt fast entschuldigend hinzu: „Ich weiß, es ist sehr schwierig, gleichzeitig unterschiedliche Dinge zu tun. Ich könnte mir nicht gut die Zähne putzen und gleichzeitig mit der anderen Hand schreiben.“
Dirigieren ist eine hochkomplexe Verflechtung aus kognitiver Kontrolle einerseits, vom Erfassen des Notentexts bis zum Bewerten dessen, was vom Orchester kommt, und Hingabe an das musikalische Geschehen andererseits.
Aber wie schnell kann jemand, der mit all diesen Parametern noch vollauf beschäftigt ist, so einen Impuls überhaupt umsetzen? „Das hängt natürlich davon ab, wie stark einen die Partitur gerade fordert“, sagt Simon Obermeier. „Aber manche Tipps wirken sofort. Wenn jemand sagt, entspann mal deine Knie, dann kann das etwas verändern.“
Laienorchester für erste Gehversuche
Obermeier erarbeitet mit dem Orchester das Vorspiel zu Wagners „Parsifal“. Das ist für ihn als Bachelor-Studenten ein rechter Brocken, nicht unbedingt Ausbildungsrepertoire. Angehende Dirigenten müssen sich die Gelegenheit, mit einem richtigen Orchester zu arbeiten, erst schaffen. Im Unterricht üben sie oft erstmal an einem Pianisten. Wer gut ist und Glück hat, findet ein Laienorchester für die ersten Gehversuche.
Am Abend, vor ausverkauftem Haus im Forum, lässt Obermeier das Stück erstmal durchspielen. Dann geht Nagano auch mit ihm ans Eingemachte: Warum bringt Wagner eine Passage erst in Dur und dann noch einmal in Moll, und wie macht man den Unterschied zwischen den Tongeschlechtern klanglich plausibel? Wie verhält sich die Tonart Ges-Dur zu As-Dur?
Die Spannung ergreift alle Anwesenden
Er fragt Obermeier aber auch: „Wieviel Uhr ist es?“ Der zögert, dann begreift er, was Nagano meint, und erwidert: „Vielleicht früh am Morgen?“ – „Nicht vielleicht, sondern sicher“, gibt Nagano zurück. „Das wissen wir, weil der erste Akt frühmorgens beginnt. Das heißt, es herrscht ein ganz bestimmtes, mildes Licht. Es braucht also andere Klangfarben als für volles Sonnenlicht.“ So viele Fragen. „Das Wichtigste ist, dass wir sie überhaupt stellen“, sagt Nagano. „Wir werden unser Leben lang andere Antworten bekommen. Es ist nie zu früh, mit dem Fragen zu beginnen.“
Obermeier lässt den Anfang noch einmal spielen. Es sind eigentlich nur kaum merkliche Nuancen, die die linke Hand anders macht als zuvor, aber die Streicher klingen jetzt deutlich gedeckter und homogener, die unendlichen melancholischen Melodiebögen atmen. Es stellt sich eine Spannung ein, die alle Anwesenden im Raum ergreift. Und ein junger Dirigent ist seinem Berufsziel einen Schritt nähergekommen.