Hamburg. In Hamburg wird Chin mit dem Bach-Preis ausgezeichnet. Im Abendblatt-Gespräch erzählt sie, ob sie vom Komponieren leben kann.

Sie sei ja nicht nur eine Frau, sondern auch noch vergleichsweise klein und Asiatin, das habe es ihr im Laufe ihrer Karriere nicht immer leicht gemacht, sagt Unsuk Chin. Als Komponistin hat die 1961 geborene Südkoreanerin, die von 1985 bis 1988 an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater studierte, es dennoch weit gebracht. Dirigenten wie Sir Simon Rattle, Alan Gilbert, Kent Nagano und Esa-Pekka Salonen gehören zu ihren Bewunderern und führen ihre Werke auf.

In der Vergangenheit gewann sie unter anderem den mit mehr als 230.000 Euro dotierten Ho-Am-Preis sowie den mit 100.000 Euro dotierten Wihuri-Sibelius-Preis, mit dem auch schon Dmitri Schostakowitsch, Igor Strawinsky und Benjamin Britten ausgezeichnet wurden. In der Saison 2019/20 ist Unsuk Chin, die in Berlin lebt, „Composer in residence“ des NDR Elbphilharmonie Orchesters, das ihr einen großen Teil der Konzertreihe „das neue werk“ widmet. Im Rahmen eines Konzerts am 28. November im Kleinen Saal der Elbphilharmonie wird der Komponistin der diesjährige Hamburger Bach-Preis verliehen.

Wer Neue Musik komponiert, muss sich eigentlich immer eine Frage stellen lassen: Können Sie davon tatsächlich leben?

Unsuk Chin Es hängt davon ab, wie man leben will. Ich hatte vor 20 Jahren ein sehr interessantes Gespräch mit dem Komponisten Krzysztof Penderecki, der erzählte, wie schwer es sei, durch seine Arbeit seine Villa in Zürich, sein Schloss und das ganze Personal zu finanzieren. Klar, unter diesen Voraussetzungen ist es schwierig, aber ich bin eher auf einem mittleren Weg, lebe weder luxuriös noch besonders bescheiden. Seit etwa 15 Jahren läuft es finanziell ganz gut, aber die materielle Seite meines Berufs war für mich nie wichtig, und ich hatte nie Angst vor materieller Not. Das ist auch der Grund, warum ich mich nie für eine Professur beworben habe, die eine gewisse Sicherheit bringen würde.

Es gibt viele Komponisten und auch Musiker, die sich dadurch finanziell absichern.

Gewiss, aber für mich ist das nichts. Wenn ich komponiere, dann kann ich nichts anderes tun, keinen Titel tragen, keine soziale Verantwortung dieser Art übernehmen. Dann muss alle Energie in die Kompositionsarbeit fließen.

Gibt es bei Ihnen eine bestimmte Routine, feste Zeiten, zu denen Sie täglich kompo­nieren?

Nein, so etwas gibt es nicht und gab es bei mir auch nie. Ich habe ja eine Familie, da kommen Haushalt, Kinderbetreuung, Bürokram, Komponieren, das Planen neuer Projekte immer zusammen. Auch wenn ich vielleicht nicht so aussehe, ich bin ein sehr impulsiver Mensch und entsprechend ist mein Alltag sehr improvisiert.

Manche Schriftsteller kennen Schreibblockaden. Gibt es nach ihrer Erfahrung auch Kompositionsblockaden?

Bei mir jedenfalls ständig. Wenn ich eine Auftragskomposition angenommen habe, denke ich anfangs immer, ich hätte da ja schon eine Idee, die ich jetzt nur noch ausarbeiten muss und fühle mich gut. Aber dann setze ich mich hin, fange konkret an und habe plötzlich das Gefühl, überhaupt keine Idee zu haben. Ich erlebe täglich Dutzende Blockaden, aber irgendwie geht es doch millimeterweise voran. Und wenn das Stück dann fertig ist, stelle ich fest, dass ich es tatsächlich von Anfang an in mir hatte. Ich muss wohl immer wieder diesen Preis zahlen, diesen Schmerz aushalten, um zu einem Ergebnis zu kommen. Igor Strawinsky hat ja auch von solchen Erfahrungen berichtet. Erfahrenen wie unerfahrenen Komponisten geht es so, der Vorteil als erfahrener Komponist ist nur: Man weiß, dass sich irgendwann eine Tür öffnet und das Stück fertig wird.

Haben Sie schon mal einen Kompositionsauftrag zurückgegeben, weil Ihnen einfach nichts einfiel?

Das nicht, aber schon mal den Abgabetermin massiv verschoben. Mein Cello Concerto mit Alban Gerhardt als Solist war für das Jahr 2007 beauftragt, aber erst 2009 endlich fertig. Da hat er ganz schön lange warten müssen. Ansonsten gilt: Ich liefere extrem spät, aber ich liefere.

Sie haben vom Schmerz beim Komponieren gesprochen. Mit György Ligeti haben Sie sich ja zu Beginn Ihrer Karriere auch keinen ganz einfachen Lehrer ausgesucht. Immerhin hat er sie aufgefordert all ihre bisherigen Kompositionen wegzuwerfen, weil sie wertlos seien. Sind sie sehr leidensfähig?

Man könnte denken, dass es für Ligeti-Schüler nur zwei Möglichkeiten gab: mit dem Komponieren aufhören oder verrückt werden. Und tatsächlich mussten einige in psychologische Behandlung. Aber ich sehe es so: Wenn man das nicht aushält, wie kann man dann ein Leben lang ein Komponist sein? Etwas Neues zu kreieren ist tatsächlich ein unglaublich schmerzhafter Prozess, man muss sehr selbstkritisch sein. Für mich war das Studium bei Ligeti die richtige Prüfung zur richtigen Zeit. Es war ja nicht nur sein hartes Urteil, ich hatte außerdem kein Geld, mein Stipendium lief nach zwei Jahren aus, ich musste jobben, aber all das hat mich auf lange Sicht gestärkt. Heute habe ich vor nichts mehr Angst.

Glauben Sie, er würde Ihre heutige Arbeit loben?

Die würde er vermutlich auch kritisieren. Zum Beispiel, weil sie „zu gut“ geschrieben sei. Das war für ihn ein Schimpfwort.

Mochten Sie ihn?

Was heißt mögen ...? Ich weiß auch nicht, ob er mich gemocht hat. Aber ich verstehe ihn jetzt als Mensch in all seinen Widersprüchen. Ich wäre gern so gnadenlos wie er, aber wenn man in unserer Zeit eine Meisterklasse gibt, wird erwartet, dass man immer nett zu allen ist. Dabei habe ich wenig Lust, dieser Erwartung zu entsprechen. Früher gab es sehr kontroverse Künstlerpersönlichkeiten, die andere zwar haben leiden lassen, aber gnadenlos ehrlich waren. Das darf man heutzutage nicht mehr sein. Sehr schade.

Hatten Sie als Frau besondere Schwierigkeiten, sich in einer von Männern dominierten Musikwelt durchzusetzen?

In den 80er- und 90er-Jahren gab es wenig Komponistinnen, und man hat Frauen generell nicht so ernst genommen. Bei mir kam hinzu, dass ich Asiatin und zudem relativ klein bin. Sie werden es kaum glauben, aber auch das spielt eine Rolle. Ich habe das damals allerdings alles gar nicht so wahrgenommen. Ich war voll und ganz mit meinen inneren Kämpfen beschäftigt und habe nie äußeren Faktoren die Schuld gegeben, wenn irgendetwas nicht klappte. Heute ist es viel leichter für Frauen, als eigenständig wahrgenommen zu werden. Gute Kompositionen sollten aufgeführt werden, ganz egal, ob ein Mann oder eine Frau sie geschrieben hat. Ich möchte jedenfalls nicht gespielt werden, weil ich die Quotenfrau bin. Das ist viel viel schlimmer, als gar nicht gespielt zu werden.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie nicht für das Publikum komponieren. Komponieren Sie für die Musiker? Oder nur für sich?

Ich würde jedenfalls kein Stück schreiben, nur damit der Interpret glänzen und sein ganzes technisches Können zeigen kann. Das ist musikalisch schlicht uninteressant. Auf der anderen Seite: Natürlich gehört zu einem Musikstück ein gewisser Kampf, es darf nicht zu glatt sein. Aber: Ein hoher Schwierigkeitsgrad sollte nie zum Selbstzweck werden.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie eines Ihrer Werke zum ersten Mal live hören?

Das ist sehr schlimm. Nicht die Uraufführung selbst, sondern die erste Probe. Plötzlich frage ich mich, ob das, was ich da abgeliefert habe, wirklich gut ist. Ich habe dann das Gefühl, vollkommen nackt dazustehen. Mit der Zeit gewöhne ich mich daran, und die Musiker werden ja auch mit jeder Probe besser.

Sie haben sehr prominente Fürsprecher, die Ihre Werke regelmäßig aufführen, etwa Sir Simon Rattle oder in Hamburg Alan Gilbert, den Chefdirigenten des NDR Elbphilharmonie Orchesters ...

Ja, und das ist wunderbar, denn so bekomme ich Kontakt zu einem anderen Publikum als normalerweise bei Neuer Musik üblich. Sonst sitzen in Konzerten ja häufig vor allem Kollegen und Kritiker.

Sie haben so viele verschiedene Stücke von der Klavieretüde bis zum Orchesterstück komponiert, gibt es ein Lieblingsinstrument?

Ja, das Orchester, weil man damit alles machen kann. Ansonsten gehen mir so langsam die Instrumente aus. Mein eigentliches Lieblingsinstrument ist das Klavier, aber ich habe kaum Stücke dafür geschrieben. Warum? Weil es dafür bereits so unendlich viele bedeutende Stücke gibt. Ich kann da nichts mehr hinzufügen.

Unsuk Chin: Akrostichon Do 28.11., 19.30, Elbphilharmonie, Kleiner Saal, Infos und Karten ab 22,- unter ndr.de/dasneuewerk