Hamburg. Trotzdem singt Oerding mit Ina Müller auf seinem sechsten Album „Konturen“ ein Duett. Ein Ortstermin mit Barmbeker Jukebox.
Der Spielautomat in der Capri-Stube dudelt leise seine „Komm, fütter mich mit Kleingeld“-Melodie, während die Tresenkletten mit der Wirtin kniffeln und Johannes Oerding über die erste Frage des Abends nachdenkt: Holsten, Astra oder Moravia? Gardinenkneipen wie diese in der Von-Essen-Straße in Barmbek-Süd sind die Treffpunkte für die Einsamen, die Gesellschaft suchen und für Gesellige, die nicht einsam sein wollen.
Und Johannes Oerding, nach Udo Lindenberg (der ihn als kleinen Bruder von Stevie Wonder bezeichnet) wohl der derzeit erfolgreichste Sänger der Stadt, passt gut hierher in sein ehemaliges Quartier. 2002 zog der heute 37-Jährige vom Niederrhein erst nach Eimsbüttel und 2004 nach Barmbek-Süd, lebte dort im Winterhuder Weg als Nachbar von Michy Reincke und kickte beim SV Uhlenhorst-Adler. Jetzt wohnt er in der Schanze und kommt zurück in die „Barmbronx“, in die Capri-Stube als berufsbedingt geselliger Einsamer.
Ich war früher viel klarer und strategischer
Eine Ambivalenz, die Oerding auch auf seinem sechsten Album „Konturen“ anspricht: „Treuer Betrüger“, „gefangener Freigeist“ und „weinender Clown“ nennt er sich im Lied „Unter einen Hut“. „Das hat sich entwickelt. Ich war früher viel klarer und strategischer. Heute lasse ich künstlerisches Chaos zu, auch weil ich viel erreicht und entsprechende Freiheiten habe. Wenn ich vor zehn Jahren zum Geburtstag meiner Omma eingeladen wurde, hatte ich da gefälligst mit ordentlichen Klamotten aufzutauchen.
Heute sagen sie: Ach, der ist Künstler, der darf anziehen, was er will, immerhin hat er was an.“ Als schwarzes Musikerschaf der Familie hat er sich etabliert und wird so akzeptiert. „Dass ich hart arbeite, muss ich aber immer wieder erklären,“ sagt er. Die Jukebox wird gefüttert: Michael Jackson, „P.Y.T.“.
Tatsächlich arbeitet Oerding seit dem Debüt „Erste Wahl“ 2009 rund um die Uhr. Alle zwei Jahre ein Album, dazwischen Tourneen. Eine längere Pause kam für ihn nie in Frage. „Der strenge Arbeitsrhythmus diszipliniert mich, Musik ist auch das einzige, wo ich diszipliniert bin. Das ist meine größte Liebe.“ Die Gefahr, auszubrennen, sieht er nicht, „ich hänge so an meiner Gesundheit, dass ich das sofort merken würde. Nur meine Stimme wird geschont, denn je älter ich werde, desto länger braucht sie, um sich zu regenerieren. Und ich will, dass alle anderen so belastbar sind wie ich, das ist meine Schwäche.“
Wo sind die Dichter und Denker?
Im Oerding-Kosmos arbeiten 50 Menschen mit, und waren die ersten drei Alben eher Solisten-Platten, so sind die drei nächsten echte Band-Alben geworden. Der Sound auf „Konturen“ ist breiter denn je aufgestellt, „ich habe mich bewusst nach links und rechts mehr getraut“. Pop-Hymnen wie „Besser als jetzt“ oder das an Rod Stewarts „Baby Jane“ angelehnte „Anfang“ sind mit dem Bewusstsein der sehr groß gewordenen Konzerthallen geschrieben worden. Aber auch zurück zu den Wurzeln ging er, „Benjamin Button“ und „Blinde Passagiere“ spielte er zu Hause am Klavier ein.
Inhaltlich geht Johannes Oerding ebenfalls viele neue Wege, nicht so plakativ wie im Friedenslied „Weisse Tauben“ auf dem Vorgänger-Album „Kreise“, sondern zwischen den Zeilen. Wenn er „Wo sind die Dichter und Denker? Seh’ nur noch Richter und Henker“ singt, wird klar, dass es für ihn an der Zeit ist, „einen Schuss klare Kante, eine Ecke mehr Mut“ zu zeigen. „Ich habe die Fragen gesellschaftlicher und politischer Natur, die ich habe, auf uns alle bezogen.
Für eine perfekte Welt gibt es kein Rezept, aber die Ideen, mit denen Rechtsextremisten derzeit hausieren gehen, sind Rückschritte, die kein Problem lösen und viele neue schaffen.“ Wichtig für ihn sei, seine Haltung glaubwürdig zu vertreten. Die Einladung, Titelheld eines millionenfach gelesenen Magazins zum Thema umweltbewusstes Reisen zu werden, schlug er aus: „Das konnte ich nicht machen, meine Ökobilanz als Musiker ist mit all den Tourneen und Terminen leider ein Desaster. Umweltbewusstes Reisen, das nimmt mir doch keiner ab.“
Für Gesprächsstoff wird sicher auch „Ich hab dich nicht mehr zu verlieren“ sorgen, eine Trennungsballade, die die Klatschpresse durchdrehen lassen wird: Oerdings Freundin Ina Müller singt zum ersten Mal in der langen privaten und künstlerischen Beziehung der beiden ein Duett mit ihm. Ein Duett! Über Trennung! Haltet die Pressen an! „Ich spiele Ina immer alle neuen Lieder vor, sie ist eine gnadenlos offene Kritikerin. Aber bei diesem Song hat sie sofort die zweite Stimme mitgesungen, so gut wie kein anderer Mensch sie hätte singen können.
Was interessiert uns unser Geschwätz von gestern?
Wir haben zwar gezögert, ob wir das bringen können, weil wir vor zehn Jahren entschieden haben, nicht Cindy & Bert sein zu wollen. Aber was interessiert uns unser Geschwätz von gestern? Scheiß drauf“, sagt er, knallt die Flasche auf den Tisch und lehnt sich gegen die zigarettenverqualmten Kuscheltiere hinter ihm. Kurzes Überlegen: „Und mit wem hätte ich es sonst singen sollen? Ich kenne nur eine Frau!“, fügt er an und lacht.
Die Kniffelrunde schaut kurz rüber, lässt sich aber durch das Interview und Stühlerücken beim Fotoshooting nicht beim Zocken stören. In „Anfassen“ widmet sich Oerding der vermeintlichen virtuellen Nähe der sozialen Netzwerke, von denen er Abstand hält: „Ihr kriegt von mir als Musiker 100 Prozent auf den Alben und auf den Touren. Dafür gebe ich alles“, aber täglich Dutzende persönliche Anfragen nach Videobotschaften oder Hochzeitsauftritten ignoriert er. Von den Gästen in der Capri-Stube allerdings kennt er später alle Namen und macht gern Fotos mit ihnen.
Die Capri-Stube muss irgendwann schließen, wenn auch eine Stunde später als gewohnt. Weiter geht es in das Freundlich + Kompetent im Mundsburg Center. Auch hier ist montags schon vor Mitternacht Kehraus und Putzlicht angesagt. Wir sind allein. Ist ein rheinischer Geselle, erfolgreicher Musiker und „Sing meinen Song“-TV-Star, der am 2. Mai vor 12.000 Fans in der ausverkauften Barclaycard Arena spielen wird, überhaupt jemals einsam?
„Es gibt Momente, wo dir bewusst wird, dass du da alleine durch musst. Alle schlafen, und du kannst nicht pennen nach einem Auftritt vor 10.000 Leuten: Klassiker. Aber ich neige dazu, gern einsam zu sein. Trotzdem muss ich dann irgendwas machen. Ich fahre mit dem Auto durch die Gegend und höre Musik oder laufe um die Alster. So wie Udo.“