Reinbek. Heimspiel vor den Toren der Stadt: Der Buchpreis-Gewinner las im Reinbeker Schloss. Das Thema Peter Handke sparte er aus.

Wenn Literaturveranstaltungen sehr ernst und getragen sind, zeigen sie zumindest teilweise alle Merkmale denkerischer Arbeit. Das kann eine Anstrengung sein. Sprechen wir es frei heraus: Die für die meisten Besucher von Lesungen beglückendsten Abende sind die, auf denen gelacht wird. Das kann, muss aber nicht an den dann von Humor durchzogenen Texten liegen, um die es jeweils geht. Es reicht manchmal, wenn sich der Dichter auf die Kunst der gewitzten Aussage versteht.

Der neue Träger des Deutschen Buchpreises tut genau das. Deswegen ist Saša Stanišić an diesem Abend im Reinbeker Schloss der ideale Schriftsteller.

Das Vorstadtbürgertum frisst Saša Stanišić aus der Hand

Das Vorstadtbürgertum frisst ihm aus der Hand, ist ja eh klar: Man wohnt einem Auftritt des Mannes der Stunde bei. Stanišić hat mit einem Buch über Heimat, über Europas vergessenen Krieg, über Deutschland und über Migration den Nerv der Zeit getroffen. Was Jugoslawien angeht, schlug die Literaturwelt eine kaum absehbare Kapriole: Vorvergangene Woche, nur wenige Tage vor Stanišićs Buchpreis-Ehrung, wurde Peter Handke der Literaturnobelpreis zuerkannt. Seitdem führt Stanišić vor allem auf Twitter einen gerechten Kampf gegen dichterische Verblendung und poetische Geschichtsfälschung. Handke forderte einst „Gerechtigkeit für Serbien“ und relativierte dabei zeitweise Kriegsverbrechen.

Wer also eben noch ausrufen wollte, dass das dann ja wohl eine eher unterkomplexe Definition des Schriftsteller-Idealtyps sei, wenn man den Humor-Effekt so betone, dem sei versichert: Stanišić besitzt nicht nur die Gabe des lockeren Auftritts. Er versteht sich auch auf die ironisch-komische Textgestaltung. Er schreibt aus dem Geist des Humanismus gute Geschichten und bezieht Stellung, zur Not auf einer der größten Bühnen, die die Literatur zu bieten hat: der des Frankfurter Römers, wo traditionell der Deutsche Buchpreis vergeben wird.

Nur mit einem ausgeübten Beruf darf Stanišić in Deutschland bleiben

Aber in Reinbek, in diesem in dunkler Nacht strahlenden Renaissance-Schloss, spielt all das keine Rolle. Am Tag darauf wird Stanišić auf Twitter seinen Schriftsteller-Kollegen Eugen Ruge angreifen, weil der in einem Zeitungsartikel Handke und dessen zweiflerische Sichtweise auf Kriegsverbrechen in Stanišićs Geburtsstadt Visegrád verteidigte, ohne freilich dabei auf Kritik an Handke zu verzichten.

Nein, hier und jetzt steht Saša Stanišićs glänzendes, autobiografisch gesättigtes und deshalb auch von der gewaltvollen Vertreibung aus Bosnien handelndes Buch „Herkunft“ im Mittelpunkt. Moderatorin Julia Westlake stellt dem fröhlich aufgelegten, preisverwöhnten Autor („Mir geht es hervorragend, das Geld ist seit heute auf dem Konto“) nur eine Handvoll Fragen. Warum sollten es mehr sein, die Literatur spricht für sich selbst. Stanišić liest im Stehen, nein, er deklamiert eher, manche Sätze sagt er auswendig auf.

Saša Stanišićs Buch "Herkunft" im Literatur-Podcast

podcast-image

Sätze, die von einem Fußballspiel handeln, von 1992, als Roter Stern Belgrad gegen die Bayern spielte und, so Stanišić, Jugoslawien zum letzten Mal geeint war. Aber die Zentrifugalkräfte trieben den Vielvölkerstaat bereits auseinander. Die Sätze handeln von seinem Schulweg in Heidelberg, vom Sprachkurs, von einem freundlichen Zahnarzt, der der Familie beim Ankommen in Deutschland half, von einer Sachbearbeiterin, der Stanišić nach seinem Studium beweisen muss, wie er seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller bestreiten will. Nur mit einem ausgeübten Beruf darf er weiter in Deutschland bleiben.

In dem ausverkaufte Raum sind vor allem Ü-50-Damen anwesend

Irgendwann, im reduzierten Gesprächsteil dieses im übrigen perfekt konzipierten Abends – 90 Minuten Netto-Veranstaltungszeit sind eigentlich unschlagbar –, spricht der 41-Jährige von „Humor als Erkenntnismechanismus“, und deswegen wird so häufig gelacht, obwohl es doch um existenzielle Erfahrungen geht. Es sind, das ist soziokultureller Standard bei literarischen Veranstaltungen, in dem mit 225 Plätzen restlos ausverkauften Raum vor allem Ü-50-Damen anwesend. Sie mögen Saša Stanišić.

Der hat nach seiner Anti-Handke-Wutrede in Frankfurt sowohl in den Medien als auch persönlich viel Zuspruch erfahren. Kritik gab es auch, aber selten; mancher vermutete, Stanišić habe einen Bonus gehabt. Dabei ist es doch einfach tatsächlich so, dass er den Roman des Jahres geschrieben hat. Wobei man über die Textgattung streiten kann. Und man im Hinblick auf den Kontext dieser Ehrung ganz vielleicht mutmaßen darf, dass die Kontroverse um die Stockholmer Handke-Nobilitierung Stanišić auch nicht gerade geschadet haben dürfte.

So oder so ist sein Auftritt in Reinbek ein Heimspiel, bei dem en passant dann doch jener derzeit tobende gewaltige Disput Thema wurde: Wie Literatur sich dem Thema Krieg nähern kann und wie wahrhaftig sie dabei sein muss, ohne sich aufs poetisch Ungefähre zurückzuziehen. Saša Stanišić, der in seinem Debüt „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ den Bürgerkrieg noch romanhaft behandelte, ist in seinem aktuellen Buch, das man grundsätzlich allen empfehlen möchte, die einen Bruch im Leben zu bewältigen hatten (oder dergleichen zumindest als menschliche Grunderfahrung anerkennen), persönlich und mit der Kraft des autobiografischen Ich bei seinem Thema.

In Altona kann er nicht mehr unerkannt einkaufen gehen

Er habe, erklärt Stanišić, seit jeher versucht, in seinem Schreiben eine Sprache für Gräueltaten zu finden. Speziell von Visegrád oder Srebenica sprach er nicht, aber auch sie waren gemeint, als Orte von Kriegsverbrechen, die ihn ungleich traumatischer heimsuchten als die Bewohner der westlichen Welt.

Im friedlichen Altona, wo er mit seiner Familie lebt, könne er, wie Stanišić erzählt, ohne dabei verwundert zu wirken, „nicht mehr unerkannt in den Supermarkt gehen“. Er wird das jetzt alles mitnehmen, dieser Hamburger Held der Herkunft, der weiß, dass Heimat ein Konstrukt ist, weil sie aus Erinnerungen entsteht. Und die können täuschen, vielleicht sind sie deswegen oft so bittersüß.

Wenn sich Stanišić irgendwann an diese aufregenden, erhitzten, ihn vermutlich durchschüttelnden Tage im Herbst 2019 erinnern wird, wird er nicht nur an die Handke-Affäre denken, sondern auch die Kita-Erzieherinnen, die ihn umarmten und beglückwünschten zum Buchpreis. Sein kleiner Sohn habe ihn dann auch umarmt, erzählt er den Reinbekern, und lacht.