Hamburg. Katie Mitchell bringt „Anatomie eines Suizids“ als deutschsprachige Erstaufführung – inhaltlich wie formal eine Herausforderung.
So viele Türen, und doch kein Ausweg. Von all den Wiesen und den Spazierwegen, die es vor diesem Haus geben soll, ist zwar immer wieder zu hören, beharrlich werden auch sagenhafte Pflaumenbäume beschworen, die reinste Idylle muss da lauern, irgendwo da draußen – bloß zu sehen ist davon nichts. Nur abweisender, harter Beton (Bühne: Alex Eales). Davor drei Frauen, deren Leben unheilvoll miteinander verwoben sind. Ihre Leben, und mehr noch: ihr Sterben. Denn darum geht es hier. Um das Sterben. Das Sterben-Wollen sogar, das Nicht-leben-Können, das Trotzdem-leben-Müssen, für jemand anderen nämlich, und um die Kraft, die das alles kostet, dieses permanente Herbeireden von Pflaumenbäumen, es gibt sie bestimmt und keinen Grund, daran zu zweifeln, obwohl um einen herum doch alles entsetzlich, unveränderlich grau ist.
„Es tut mir leid.“ Der erste Satz des Abends, keiner wird in den folgenden zwei Stunden häufiger fallen. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Okay. „Okay“ fällt auch sehr oft.
Schon zum zweiten Mal inszeniert die Regisseurin Katie Mitchell diesen Text, „Anatomie eines Suizids“ von Alice Birch, auch die Uraufführung vor zwei Jahren am Londoner Royal Court Theatre fand unter ihrer Regie (und in derselben Kulisse) statt. Diesmal bringt Katie Mitchell das Stück ans Deutsche Schauspielhaus, es ist die deutschsprachige Erstaufführung. Ein erbaulicher Abend ist es auch hier nicht geworden.
Zu sehen sind Clara (Julia Wieninger), ihre Tochter Anna (Gala Othero Winter) und deren Tochter Bonnie (Sandra Gerling). Ein Triptychon der Traurigkeit. Drei unglückliche Frauen, drei Generationen, zwei Selbsttötungen. Dass die Autorin im Titel behauptet, ihr Stück handele von nur „einem“ Suizid, nimmt die Unerbittlichkeit vorweg, die hier wirkt, die Unausweichlichkeit: Wie ein Fluch geht die Depression jeweils von der Mutter auf die Tochter über. Ein Trauma löst das nächste aus, was vielleicht kein Wunder ist, wenn man – wie Anna von Clara – schon als Baby gesagt bekommt: „Niemand hat je so bedauert, am Leben zu sein wie ich.“ Es ist, so scheint es, dieselbe Depression, die sich durch die Jahre schleicht wie ein Nervengift durch den Körper, bis sich Bonnie, die letzte Frau dieser verhängnisvollen Reihe, zu einem radikalen Schnitt entschließt. „Ich muss sicher sein, dass es mit mir aufhört.“ Der Kampf gegen das Erbe ist auch ein Kampf gegen sich selbst.
Dieselbe Depression also, dasselbe beklemmende Grau, derselbe triste Raum. Und eine dramaturgische Entscheidung, die das noch verdeutlicht: Nur durch Jahreseinblendungen über den hinteren Türen begreift der Zuschauer, dass die hier gleichzeitig geschehenden Ereignisse eigentlich nacheinander passieren. Die Zeitzonen befinden sich im Abstand von rund 20 Jahren zueinander, während das Leben durch all die Türen an den Protagonistinnen vorbeirauscht. Es berührt sie durchaus, es verändert sie auch, aber diese Frauen leben ihr Leben nicht selbst. Sie bleiben passiv, sie werden gelebt.
Wie Anziehpuppen stehen sie nebeneinander. Ihre Kleider werden ihnen in einer flüssig vorbeischnurrenden Choreografie aus- und andere wieder angezogen, ein Mantel umgelegt, ein Tisch bereitgestellt, ein Rock übergestreift, eine Kette umgehängt. Nahtlos geht das so, jene Schauspieler, die die übrigen Charaktere übernehmen – Vater, Ehemann, Schwägerin, Geliebte –, sie fungieren zugleich als Ankleider und Requisitenschieber. Die weiblichen Hauptfiguren, die niemals direkt miteinander agieren, trennt dabei keine Wand, sondern ein unaufdringliches Farbkonzept: Rot, Blau, Grün, von links nach rechts.
Keines ihrer Leben ist ohne das andere wahrzunehmen, konzentriert man sich auf eine Szene, verpasst man einen Moment einer anderen. Gesprochen wird verschränkt, immer wieder auch synchron: „Okay“ oder „Nein“ oder, besonders verstörend inmitten der permanenten nackten Verzweiflung, „alles ist gut“. Nichts ist gut. Nicht für die Frauen, die zu ihrem seelischen Leiden auch die Vorwürfe der Außenwelt ertragen müssen: „Du bist jetzt Mutter – dieser ganze Egoismus muss jetzt aufhören.“ Und nicht für die Angehörigen, die mit gedämpften Stimmen ebenso die gesellschaftliche Tabuisierung wie auch die eigene Bürde verdeutlichen.
Das Ensemble ist auf allen Positionen fabelhaft. Julia Wieninger als Clara in ihrer unwirschen Dunkelheit, die flirrend zarte Gala Othero Winter als Anna, die den eigenen Dämonen nichts entgegenzusetzen hat, die kraftvolle Sandra Gerling als Bonnie mit (selbst-)zerstörerischer Wut und einschüchternder Coolness. Auch Paul Herwig überzeugt als Mann und Vater, dem gleich zwei Frauen entgleiten, ebenso wie Ruth Marie Kröger, die der familiären Finsternis mit trotziger Verständnislosigkeit begegnet.
Katie Mitchell verzichtet auf die Live-Videos, die ihre Inszenierungen sonst oft bestimmen. Für den Split Screen, die parallel laufende und dem Publikum auch parallel gezeigte Handlung, entscheidet sie sich trotzdem. Das ist trotz des naturalistischen, filmischen Spiels anstrengend und streckenweise (bewusst) überfordernd.
Dabei ist die Struktur nicht nur klug vorgegeben, sondern meisterhaft gelöst: Die Verflechtung, die Präzision, die Simultanität. Es bleibt aber auch eine formale Spielerei. Während die als kunstvolle Übung beeindruckt, bewirkt sie doch eine Distanz. Irritierend. Und womöglich in all der Düsternis ein Segen.
„Anatomie eines Suizids“, wieder am So 20.10., 16.00, Mo 21.10. und Sa 9.11., jew. 19.30, Deutsches Schauspielhaus (U/S Hbf.), Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13