Hamburg. Der doppelte Tukur: Das Filmfest Hamburg zeigte eine Doku über das Leben des Schauspielers – und Tukur selbst las aus seinem Roman.
„Ich hatte die schönste Zeit meines Lebens und wurde mit Leib und Seele Hamburger“, sagt Ulrich Tukur irgendwann im leeren Schauspielhaus stehend über das Jahr 1985. Es ist eine der schönsten Szenen des Dokumentarfilms „Der Schauspieler Ulrich Tukur – Träumer und Suchender“ von Eva Gerberding, der am Wochenende im ausverkauften Cinemaxx beim Filmfest Hamburg Premiere feierte. Tukur liebt Hamburg und die Hansestadt liebt den Schauspieler, Musiker, Autor und Flaneur zurück. Dazu später mehr.
Zunächst aber gibt es zum Aufwärmen einen erheiternden Vorfilm. Mit „Donny hat ein neues Auto und fährt etwas zu schnell“ hat die Hamburger Schauspielerin Karoline Eichhorn („Der Felsen“, „Dark“) nach einem Drehbuch ihres Ehemannes Arne Nielsen ihren ersten Kurzfilm abgeliefert. Stephan Schad darf vor dänischer Ferienkulisse seine Paraderolle als neurotischer Businessmann in der Figur des Abteilungsleiters Ed einmal mehr ausfüllen. Catrin Striebeck glänzt als seine lebenshungrige, irrlichternde Frau Dina. Arne Nielsen selbst fährt als schweigsamer Lagerarbeiter Donny zu schnell. Die Filmkomödie dreht sich vor allem um das brüchige Nervenkostüm Eds, der sich für alles zuständig fühlt, aber nichts wirklich hinbekommt und im Grunde sein Leben verpasst.
Phänomen Tukur fasziniert
Das kann man über den 62-jährigen Ulrich Tukur nicht sagen. Viele halten ihn zwar für ein nimmermüdes Zirkuspferd, er selbst hat sich aber in jüngster Zeit häufiger offenbart als jemand, der innere Unruhe und auch eine große Melancholie durch permanente Beschleunigung zu übertönen versucht. Die Filmemacherin Gerberding kennt Tukur seit 30 Jahren und die daraus entstehende Offenheit, macht ihre Schauspieler-Dokumentation zu einem Gewinn für all jene, die das Phänomen Tukur fasziniert.
Der Film setzt Schlaglichter auf sein Leben. Er zeigt ihn mit seiner Unterhaltungskapelle, den Rhythmus Boys, in Pyjamas beim Auftritt in der Elbphilharmonie. Man sieht ihn durch seine langjährige Wahlheimat Venedig mit Ehefrau Katharina John und Wolfsspitz Toto streifen. Im nächsten Moment wirft er in seinem toskanischen Bauernhof Montepiano Steaks auf einen Grill.
Immer auf der Flucht
In seinem schwäbisch-bürgerlichen Elternhaus war Ulrich Tukur nach eigenen Angaben ein anstrengendes Kind, das immerzu die bürgerliche Enge torpediert habe. „Ich hatte einfach zu viel Energie.“ Gerettet haben ihn die Büchersammlung der Großeltern, der Jazz und irgendwann die Spiellust. Er sei immer auf der Flucht vor etwas in etwas. Tiefen Frieden, finde er nicht, sagt Tukur in altmodischer Kleidung in einem Art-Deco-Sessel sitzend in die Kamera.
Die Doku liefert berührende Ausschnitte früher Theaterarbeiten. Die Rolle seines Durchbruchs als SS-Sturmbannführer Kittel in Peter Zadeks „Ghetto“ (1984) an der Freien Volksbühne Berlin. Dann „Lulu“ (1988) mit Susanne Lothar am Schauspielhaus. Im Ringelshirt steht er im leeren Saal, ruft noch einmal die Angst vor dem unerbittlichen Regisseur Zadek herauf, der ihn quälte, zerlegte – und neu zusammensetzte.
Viele halten Tukur für ein nimmermüdes Zirkuspferd
Sätze wie „Ich habe das gar nicht verstanden“ hört man oft von ihm. Das ist keine Koketterie. Tukur, der an der Schauspielschule – mangels Lebenserfahrung – als mäßig talentiert galt, erzählt freimütig und lässt keinen Zweifel daran, dass er das Spiel für ein absolutes Privileg, aber auch für eine Kunst der Hochstapelei hält.
Die Regisseurin entlockt ihm auch einige private Sätze. Über die Entfremdung von seinen in den USA lebenden Töchtern nach einer zu früh eingegangenen ersten Ehe. Dann auch die vorübergehend beendete Beziehung zu seiner jetzigen Frau, Katharina John, mit der er seit 2003 verheiratet ist. Die Giudecca in Venedig hat das Paar inzwischen verlassen, lebt in Berlin, obwohl Tukur lieber nach Hamburg gezogen wäre. Dabei war Venedig für diesen Nostalgiker eigentlich folgerichtig. „Mein Ziel ist, mich aus der Gegenwart wegzuträumen. Ich will das nicht hier“, sagt Tukur. „Mir fehlt da etwas, eine Eleganz, eine Schönheit, die Welt ist so wahnsinnig hässlich geworden.“
Wachsende Unruhe
Die einzige Rettung vor seiner wachsenden Unruhe, die auch eine Grundangst vor der Endlichkeit beinhaltet, könnte das Schreiben sein. Eine Novelle und eine Geschichtensammlung hat er veröffentlicht, nun erscheint der erste Roman „Der Ursprung der Welt“. Am Sonntag las er daraus im Kleinen Saal der Laeiszhalle. Er erzählt, auch von sich selbst schreibend, die Geschichte eines jungen Mannes, der nicht weiß, wo er hingehört. Paul Goullet, Adoptivsohn, der im bürgerlichen Stuttgart heranwächst, flüchtet sich in eine analoge Welt.
Goullet entdeckt in Paris ein altes Fotoalbum und findet darin gleich mehrfach sein eigenes Bild – in einer früheren Zeit. Eine spannungs- und wendungsreiche Reise in die Vergangenheit bis zur Enttarnung des Geheimnisses beginnt. Tukur würzt in der Dystopie eine Kriminalhandlung mit viel Historie. Den Widerstand gegen ein totalitäres System des Jahres 2033 konterkariert er mit dem Kampf um die Freiheit zur Zeit der Nazi-Besatzung 1943.
Die Erzählung wechselt zwischen den Zeitebenen kunstvoll hin und her. Am Ende führt Tukur die Handlungsstränge zusammen. Es ist irgendwie tröstlich zu wissen, dass für diesen einzigartigen Künstler auf Erden im Schreiben vielleicht doch noch Rettung wartet.
„Der Schauspieler Ulrich Tukur – Träumender und Suchender“ 3.11., 22.20 Uhr, Arte. „Der Ursprung der Welt“, ab 9.10. im Handel, 304 Seiten, S. Fischer, 22 Euro.