Hamburg. Beim Festival auf St. Pauli gab es viele Geheimtipps – und auch ein paar Geheimstars, die am Rand für Überraschung sorgten.

„We want more! We want more!“, ruft eine schwitzende Meute am Donnerstagabend im rappelvollen Kiezclub Headcrash auf dem Hamburger Berg. „Zugabe“-Forderungen sind bei aller Qualität vieler Auftritte auf dem Reeperbahn Festival eine Seltenheit, auch weil die Zeitpläne bei 600 Konzerten und vielen weiteren Veranstaltungen an 90 Orten sehr eng sind.

Aber Bang Bang Romeo aus Doncaster darf noch mal auf die Bühne und mit einer brisanten Mischung aus Rock’n’Roll, Soul und Wave wie ein Güterzug über das Publikum hinwegdonnern. Schon mit dem ersten Song hatte das Quartett um Sängerin Anastasia Walker das Festivalpublikum gefangen genommen. Bei den Refrains, besonders beim fantastischen Radiohead-Cover „Creep“, bilden sich Chöre, ein Meer aus Armen wedelt im Takt, und als Walker ihre unfassbare Stimme und große Präsenz bei einem Rundgang durch den Club hautnah vermittelt, teilt sich die Menge in einer Mischung aus Ehrfurcht und völliger Hingerissenheit.

Direkt nach Konzertende werden Bands für weitere Auftritte gebucht

Der Auftritt von Bang Bang Romeo ist nicht nur eine der besten Shows, die das Reeperbahn Festival seit der Erstauflage im Jahr 2006 erlebt, er steht auch für die Idee, die Europas wichtigste Showcase-Veranstaltung erneut ausmacht: Hier spielen Stars von morgen auf der Suche nach Plattenfirmen, internationalen Tourneeveranstaltern, Vertrieben, Kontakten – und natürlich nach neuen Fans.

Bang Bang Romeo war bereits im Juli im Vorprogramm von P!nk vor 43.000 Zuschauern im Volksparkstadion zu sehen, jetzt soll zeitnah das Debütalbum „A Heartbreaker’s Guide To The Galaxy“ erscheinen und eine Deutschland-Tour im kommenden März stattfinden. Constantin von Twickel vom kleineren Kiezclub Nochtspeicher eilt deshalb sofort nach Bang Bang Romeos Zugabe hinter die Bühne zu Walker und ihrem Manager, um sich – erfolgreich – die Band zu sichern, „bevor die durch die Decke geht. Denn das wird sie.“ Kein Zweifel!

Immer mehr Frauen geben beim Festival den Ton an

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Festivals, zu dem dieses Konzert im Headcrash passt, ist die weltweit operierende Gleichstellungs-Initiative „Keychange“. Dazu gehört auch die beim Festival gefeierte Gründung von „Music Women Germany“, einer Datenbank, die alle in der deutschen Musikbranche arbeitenden Frauen – von der Songschreiberin bis zur Tontechnikerin – vernetzen möchte. Und nach 40 Prozent Frauenanteil im vergangenen Jahr hat das Reeperbahn Festival dieses Jahr 44 Prozent Frauen im Programm erreicht – wobei Quote auf dem Kiez auch Qualität bedeutet.

Das britische Power-Trio Drahla mit Sängerin und Gitarristin Luciel Brown beweist mit wuchtigem und experimentierfreudigem Post-Punk im Nochtspeicher, warum es zu den Nominierten für den Festivalpreis „Anchor“ in der Kategorie „Bester Newcomer“ gehört. Auch die Düsseldorfer Band Gato Preto mit Sängerin Gata Misteriosa entfesselt mit futuristischem Afrobeat-House eine furiose Show im Mojo Club und zeigt, dass aus den Clubs von Mosambik und Ghana, den Wurzeln des Projekts, ein europäischer Trend erwachsen könnte.

Apropos Trend: den sieht nicht nur Kultursenator Casten Brosda, der bei der Eröffnungsshow sein Herz für die US-Durchstarter The Highwomen offenbarte, im Neo- und Alternative-Country. Der „Neon Nashville“-Abend im Thomas ­Read platzt jedenfalls aus allen Nähten bei Konzerten der Sängerinnen Rachel Wammack, Ingrid Andress, Ilse DeLange und Country-Rapper (!) Blanco Brown.

Thees Uhlmann und Mando Diao spielen in ungewohnt kleinen Clubs

Aber auch die kleinen Perlen glänzen im Licht der Bühnenstrahler, zum Beispiel die Einmann-Countryband Bror Gunnar Jansson in der Pooca Bar: Der Schwede bedient gleichzeitig Gitarre, Bass- und Snaretrommel, Becken und weitere Instrumente und klingt dabei wie ein junger, leicht angesäuselter Bob Dylan. Witzig!

Witzige Ideen haben beim Reeperbahn Festival auch die bereits etablierten Künstler. Thees Uhlmann und Band und Mando Diao, sonst in deutlich größere Hallen gebucht, zwängen sich bei ihren Überraschungskonzerten am Donnerstag mit 300 Fans in den Bahnhof Pauli im Untergeschoss des Klubhauses am Spielbudenplatz. Kraftklub-Sänger Till Brummer alias Kummer spielt seine Solo-Songs auf einer LKW-Pritsche auf der Reeperbahn. Den Vogel schießt in diesem Jahr aber die Crew ab, die „die Party rockt“: Hamburgs Electro-Anarchos Deichkind verteilen am Freitagnachmittag auf der Reeperbahn 600 Pizzaschachteln mit Einladungen für ein abendliches Guerilla-Konzert. Beim ersten Reeperbahn Festival 2006 waren sie ein Geheimtipp, jetzt sind sie Geheimstars.

Deichkind päsentiert am Millerntor neues „Richtig gutes Zeug“

Am 7. März spielt Deichkind vor 12.000 Fans in der ausverkauften Barclaycard Arena, am Freitag hingegen passen 1500 auf das Areal zwischen Südtribüne und Gegengerade vor dem Stadion am Millerntor. Deichkind umsonst und draußen. Spaß für Deichfans, Promo für das in einer Woche erscheinende Album „Wer Sagt Denn das?“, nehmen und geben. „Richtig gutes Zeug“ hauen Kryptik Joe, Porky, La Perla und ihre Gewerke 50 Minuten lang auf dem Kiez raus: „Dinge“, „Wer sagt denn das?“, „So 'ne Musik“, „Cliffhänger“, „1000 Jahre Bier“, „Arbeit nervt“, „Bude voll People“, „Keine Party“, „Limit“ und „Remmidemmi“. Und alle nur so: „Yeah!“

So schön das ist, vor allem folgt das Reeperbahn Festival immer noch dem Beatles-Prinzip: In kleinen Kiezclubs zu Stars reifen. In diesem Zusammenhang angekündigt: das Festival „Come Together – The Hamburg Beatles Experience“ vom 27. bis zum 29. März in der Großen Freiheit 36, im Kaiserkeller, Indra und Gruenspan. 60 Jahre nach den ersten Auftritten der Beatles in Hamburg gibt es dann Konzerte, Aktionen, Führungen und Vorträge rund um die Fab Four. Olli Schulz hat bereits angekündigt, die Beatles-Songs von Ringo Starr zu singen. Viele gibt es ja nicht, aber auch in nur einer halben Stunde kann man die Popwelt auf den Kopf stellen. Bang Bang Romeo und viele weitere Festival-Bands zeigen es gerade. Und länger haben die Beatles zu ihren Hochzeiten auch nicht gespielt.