Hamburg. Europas größtes Clubfestival beginnt mit Show im Operettenhaus. Renaissance für Country und Western. Zum Auftakt lange Schlangen.
„19.40 Uhr Skinny Pelembe, Nochtspeicher. 20.15 Uhr Feng Suave, Molotow SkyBar. 21 Uhr Sleaford Mods, Docks, dort dann bleiben für Leoniden um 23 Uhr.“ Mit dem Handy in der Hand und offensichtlich in der Reeperbahn-Festival-App vertieft, diktiert ein Festivalgast in der Schlange am Ticketzelt seiner Begleitung den Marschplan für den ersten Abend auf Europas größter Showcase-Sause.
Es ist immer gut, einen Plan zu haben, auch wenn der nur bis zum ersten Einlass-Stop an der Clubtür Bestand hat. Dann gilt es zu improvisieren. Aber bei 600 Konzerten und Hunderten weiteren Veranstaltungen aus den pop-affinen Bereichen Kunst, Kultur, Film und Literatur wird sich schon was finden an vier Festival-Tagen.
Auch die Veranstalter haben sich vorbereitet. Vieles ist Routine geworden seit dem ersten Reeperbahn Festival 2006. In diesem Jahr ist sogar ein echter Hollywoodstar unter den Rednern: US-Schauspieler Matt Dillon hält heute und morgen Vorträge über Filmmusik und die Zukunft des Films im Klubhaus und im East Hotel.
Wie das Thema Lärmschutz angegangen wird
90 Orte warten zwischen Millerntor und Nobistor, Elbphilharmonie, Michel und Planetarium auf voraussichtlich 48.000 Gäste. Zwar verschieben sich Schwerpunkte wie das Gastland – dieses Jahr Australien – und erwartete kommende Musiktrends wie die Renaissance von Country und Western, aber am Programm, an den Konzerten und den Branchenrunden für das internationale Fachpublikum ist nur noch Feintuning angesagt.
Vor dem Auftakt am Mittwoch verkündeten Clubkombinat und Kulturbehörde die Einrichtung eines Katasters über die Hamburger Musikclubs, um zukünftige Konflikte (Stichwort: Lärmschutz) zwischen Clubkultur, Planungsbehörden und Bauvorhaben auszuschließen, aber diese für den allgemeinen Konzertliebhaber eher technisch klingende Nachricht ist wichtig in einer Stadt, in der Bands, Fans und Einwohner immer enger zusammenrücken (müssen).
Eng zusammenrücken ist auch in der Schlange vor dem Operettenhaus angesagt, wo die offizielle Eröffnung von Ray Cokes und Charlotte Roche, Relikten des untergegangenen MTV- und Viva-Zeitalters, eingeläutet werden soll. Immer wieder hatte das Reeperbahn Festival mit „Jetzt geht es los“-Veranstaltungen experimentiert, dieses Jahr also soll die „Doors Open Show“ die Türen zum viertägigen Pop-Paradies aufstoßen – obwohl das Festival längst in Gange ist.
Tschentscher lädt zum „Musikdialog“
Auf dem Spielbudenplatz und im Festival Village auf dem Heiligengeistfeld spielen schon nachmittags die ersten Bands, und bei den Netzwerk-Treffen der Branche wird schon eifrig über die „Keychange“-Initiative für mehr Frauen im Musikgeschäft, über Nachhaltigkeit und Umweltmanagement, Streaming und Blockchain und weitere Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft debattiert.
Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) lädt zum „Musikdialog“ mit Musikern und Managern und informierte sich über Trends und Entwicklungen der Musikbranche, die in der Hansestadt auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Klingt unrock’n’rollig, ist aber so. Schließlich dient das Reeperbahn Festival internationalen Plattenfirmen, Veranstaltern und Exportbüros auch als Plattform für Präsentationen und Investitionen.
Heißes Thema: Wer springt für Foals ein?
Das heiße Thema vor dem Operettenhaus hingegen ist die Frage, wer für Foals am Freitag im Docks einspringt. Die Band aus Oxford ist neben Mando Diao und Thees Uhlmann, die am Donnerstag im für diese Namen viel zu kleinen Kellerclub Bahnhof Pauli auftreten wollen, der prominenteste Kiezgast. Aber kurz vor der Abreise aus Griechenland verletzte sich Sänger Yannis Phillippakis bei einem „Haushaltsunfall“ mit einem Messer an der Hand.
Als Ersatz verspricht Warner Music einen „Diamant-Rapper“ aus dem eigenen Stall. Spekuliert wird auf dem Kiez zwischen Cro, Marteria, Casper, Bausa und Sido. Na, ja. Improvisiert eben. Ebenfalls improvisiert wirkt dann die „Doors Open Show“ im Operettenhaus.
Nach der Begrüßung von Festival-Chef Alexander Schulz und Kultursenator Carsten Brosda (SPD), der in seiner frei und auf Englisch gehaltenen Rede seine trendige Leidenschaft für Country (speziell die Band The Highwomen) offenbart, nimmt die Show trotz der sympathischen Show-Urgesteine Cokes und Roche und Songbeiträgen von Feist und Dope Lemon wenig Fahrt auf. Als Talk okay, als Startschuss zu leise.
Wer bleibt schon lange alleine auf St. Pauli?
Hochkarätig ist aber die vorgestellte Jury für den seit 2016 vergebenen „Anchor“-Festivalpreis für den besten Newcomer. Die Musikerinnen Peaches und Kate Nash, die australische Radiomoderatorin Zan Rowe, Beatsteaks-Sänger Arnim Teutoburg-Weiß und die Produzenten-Legenden Tony Visconti (David Bowie, Manic Street Preachers) und Bob Rock (Metallica, Bon Jovi) schauen in den nächsten Tagen bei sechs vorab nominierten Festivalgästen genauer hin, um den Nachfolger der belgischen Doppelsieger von 2018, Tamino und Faces On TV zu küren.
Zu den nominierten gehört auch das niederländische Psychedelic-Pop-Duo Feng Suave, den auch der eingangs erwähnte Planungsmeister in der Ticketschlange auf dem Zettel hatte. Damit ist er offensichtlich nicht alleine, aber wer bleibt schon lange alleine auf St. Pauli? Vor dem Docks staut sich die Schlange für die American Authors, und der Country-Abend im Thomas Read verkündet bereits vor der ersten Künstlerin Rachel Wammack den inoffiziellen Untertitel des Reeperbahn-Festivals: Einlass-Stop!