Hamburg. Die Hälfte dieser Zeit unter der Leitung von Rainer Moritz. Ein Gespräch über den Wert des Lesens und die Zukunft der Bücher.

Fast ein halbes Jahrhundert lang beherbergte die Villa an der Außenalster ein Mädchenheim, ehe der 1985 gegründete Literaturhaus-Verein 1989 in den Schwanenwik 38 einzog. Seitdem gibt es Lesungen und Diskussionsabende im Literaturhaus, es ist der wichtigste Literaturveranstaltungsort der Stadt. In diesem Jahr wird die Institution 30 Jahre alt. Seit 2005 leitet Rainer Moritz das Literaturhaus.

Hamburger Abendblatt: Das Literaturhaus wurde zuletzt modernisiert. Es gibt jetzt einen Fahrstuhl. Und der fährt, ganz im Sinne der alterhergebrachten, konzentrierten Kulturpraxis des Lesens, sehr, sehr langsam. Er passt eigentlich ganz gut zu Ihrer Institution. Oder laufen Sie lieber Treppen?

Rainer Moritz: Erlauben Sie mir eine Korrektur: Es handelt sich um einen Lift, genauer: um einen hydraulischen Plattformlift, der gediegene 75 Sekunden braucht, um mich vom Erdgeschoss bis in mein Büro im 3. Stock zu befördern. Wie Sie zu Recht vermuten, ist das von großem Symbolwert: Der Lift widersetzt sich der Geschwindigkeit unseres Alltags und strebt nicht danach, Distanzen möglichst schnell zu überwinden. Er lässt mich an der Erfahrung eines langsamen Nach-oben-Gleitens teilhaben und gibt die Chance, in diesem Schwebezustand die Tagesnotwendigkeiten und mein Leben zu überdenken. Abgesehen davon gehe ich meistens zu Fuß, aus Körperertüchtigungsgründen.

Damit das denkmalgeschützte Haus barrierefrei werden kann, musste mal wieder die „Zeit“-Stiftung einspringen, der die Immobilie gehört; das Literaturhaus darf sie mietfrei nutzen. Sie mahnen schon lange an, dass die Stadt die institutionelle Förderung aufstocken müsste. Welche Signale gibt es in diese Richtung?

Moritz: Wir sind der „Zeit“-Stiftung sehr dankbar, dass sie sich bei den Umbau- und Sanierungsmaßnahmen im Sommer 2018 finanziell so stark engagiert hat. Unser Haus am Schwanenwik ist nun – übrigens auch dank einer Zuwendung der Hamburger Bürgerschaft – endlich barrierefreier, verfügt über eine neue Teilklima- und eine Hörunterstützungsanlage im Festsaal und befindet sich hinsichtlich des Brandschutzes auf dem neuesten Stand. Das alles sind elementare Voraussetzungen, um das Haus erfolgreich ins nächste Jahrzehnt zu führen. Erfreulicherweise gab es zuletzt auch Bewegung, was die finanzielle Förderung durch die Behörde für Kultur und Medien angeht. Die institutionelle Förderung durch die Stadt stagnierte über ein Vierteljahrhundert, sodass eine Fortführung unserer Arbeit infrage stand. Inzwischen sind wir nach vielen konstruktiven Gesprächen mit Senator Carsten Brosda einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Vor Kurzem wurde die städtische Bezuschussung signifikant angehoben, sodass wir zwar nicht auf Rosen gebettet sind – das würde mich eher erschrecken –, aber doch auf einer gesicherteren Basis weiterarbeiten können.

Als Nicht-Performance-Kunst ist die Literatur ziemlich preiswert. Ihre Funktion im Hinblick auf Allgemeinbildung, kulturelle Teilhabe, Unterhaltung oder auch als Schule der Empathie – kein unwichtiges Thema in diesen komplizierten Zeiten – ist offensichtlich. Ärgert Sie manchmal, dass dem nicht unbedingt angemessen Rechnung getragen wird?

Moritz: Die Literatur muss seit jeher damit leben, dass sie weniger „auffällt“ und nicht mit ins Auge und Ohr springenden Ausstellungen, Konzerten oder Bühnenshows zu konkurrieren vermag. Manchmal wünsche ich mir, dass diejenigen, die Kunst und Kultur unterstützen wollen, die „stille“ Literatur deutlicher wahrnähmen und ihre gesellschaftliche Funktion mehr wertschätzten. Im Gegenzug sehen wir aber zum Glück auch, dass es eine Gegenbewegung zur Häppchen- und Eventkultur gibt. Sich mit Literatur zu befassen schärft die Konzentration und den Möglichkeitssinn, stellt Fragen – das haben wir nötiger denn je, und das lässt sich in einem Literaturhaus erfahren.

Zuletzt sind der Buchbranche viele Leser verloren gegangen. Was stimmt Sie optimistisch, dass es zu einer Trendwende kommt?

Moritz: Bücher konkurrieren stärker denn je mit anderen Informations-, Unterhaltungs- und Bildungsangeboten. Die Zahl der Leserinnen und Leser von Büchern wird wahrscheinlich in absoluten Zahlen in absehbarer Zeit nicht zunehmen. Wenn wir jedoch massiv für das Bücherlesen werben und dessen Mehrwert aufzeigen, bin ich zuversichtlich, dass diese im Grunde nicht trendabhängige Kulturtechnik neuen Zuspruch im medialen Informationsmix bekommen wird.

Der neue Rowohlt-Verleger Florian Illies spricht davon, man dürfe Bücher auf keinen Fall unter Denkmalschutz stellen. Was kann das Literaturhaus dazu beitragen?

Moritz: Da stimme ich Florian Illies zu. Wenig ist der Literatur und ihrer Vermittlung damit gedient, wenn das Lesen einen Mitleidsbonus erhält. Die Literatur hat nicht den geringsten Anlass, sich kleinzumachen und ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Sich lesend die Welt anzueignen gehört zu unserer Kultur, hat nichts Altmodisches an sich, ist von größter Gegenwärtigkeit. Ein Literaturhaus muss das verdeutlichen, also Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Couleur einladen, ein junges Publikum für sich gewinnen und aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Themen in Reihen wie dem „Philosophischen Café“ in den Blickpunkt rücken.

Das Literaturhaus steht am
Schwanenwik.
Das Literaturhaus steht am Schwanenwik. © Andreas Laible

Wo hat sich Ihr Haus in den vergangenen 30 Jahren am meisten verändert?

Moritz: Das Haus hat in all den Jahren kontinuierlich versucht, wie es die erste Leiterin Christina Weiss formulierte, ein Forum zu bieten für die Vielfalt der (Gegenwarts-)Literatur. Meine Vorgängerin Ursula Keller hat sehr früh das intellektuelle Profil des Hauses geschärft, und wir haben uns in den letzten 15 Jahren mit Leidenschaft darangemacht, das Spektrum zu erweitern, in Formaten wie dem „Gemischten Doppel“ Schneisen in den unübersichtlichen Neuerscheinungsdschungel zu schlagen und nicht zuletzt das Angebot für Kinder und Jugendliche stark auszuweiten. Ein Literaturhaus ist immer ein „work in progress“; ein Sich-Ausruhen auf dem Erreichten gibt es nicht.

Welche Impulse haben sich im Nachhinein als besonders wichtig, welche als eher verzichtbar erwiesen?

Moritz: Das können Außenstehende besser beurteilen. Uns und mir ging und geht es darum, keine Schwellenängste zuzulassen, das Haus lebendig zu halten, die Zusammenarbeit mit dem Literaturhauscafé und der Buchhandlung Samtleben zu optimieren, Förderer zu gewinnen und abzubilden, was die nationale und internationale Literatur uns zu bieten hat.

Muss das Literaturhaus angesichts digital geprägter Lebenswelten bereits im Kindesalter zukünftig noch intensiver mit Schulen zusammenarbeiten?

Moritz: Es ist kein Zufall, dass wir in diesem Herbst eine dreiteilige Diskussionsreihe mit dem Titel „Welche Zukunft hat das Lesen?“ im Programm haben – ein Hinweis darauf, dass es nicht um das Ob geht. Da wir uns bereits seit gut 20 Jahren mit Kinder- und Jugendliteratur befassen und das nie als bloßes „Nice-to-have“ verstanden haben, kooperieren wir seit Langem mit den Hamburger Schulen. Die Digitalisierung unseres Alltags wird uns dazu zwingen, neue Wege zu gehen und Smartphones und Co. nicht kulturpessimistisch zu misstrauen. Wird nicht auf diesen „devices“ auch gelesen?

Jubiläum: 30 Jahre Literaturhaus Fr 13.9., ab 16 Uhr, Stempelworkshop mit Nele Palmtag (ab 6 Jahre, Eintritt frei) sowie Kaffeeklatsch und Blicke in die Historie; 19.30 Uhr, „30 Jahre danach“, Diskussion mit Ines Geipel und Georg Mascolo, Eintritt frei