Hamburg. In Frankfurt beginnt das wichtigste und weltweit größte Treffen der Literaturbranche. Die Lektüre-Tipps der Abendblatt-Redaktion.

Die Welt der Bücher ist meist eine zivilisierte Welt, aber das kann sich leicht ändern. Zum Beispiel, wenn die scharfe Fraktion der Neuen Rechten ins Spiel kommt beziehungsweise diejenigen aus den Reihen der Linken, die mit jenen unter gar keinen Umständen reden möchten, was man gar zu oft ja durchaus gut verstehen kann. Auf der Frankfurter Buchmesse erhitzten sich im vergangenen Jahr die Gemüter. Und zwar dort, wo die rechten Verlage ihre Stände aufgebaut hatten. Es gab Handgreiflichkeiten und Polizeieinsätze, was in der Buchbranche eine Ungeheuerlichkeit ist und fast überall sonst fast immer auch.

Wenn die Buchmesse in diesem Jahr (10. bis 14. Oktober) ihre Pforten öffnet, sollen sich die Vorgänge nicht wiederholen. Die weiterhin auf Weltoffenheit und Statements gegen rechts setzenden Veranstalter haben jene Abteilung Rechts an einem deutlich unattraktiveren Ort in den Messehallen untergebracht als zuletzt. Zu Menschenaufläufen soll es aufgrund der dort herrschenden Enge nicht mehr kommen können. Es wird sich zeigen, ob man geistige Enge mit geografischer Enge kontern kann.

Unendlich viele Buchtitel

Von der miefigen und umkämpften Heimatfront in die weite Welt. Das Gastland der diesjährigen Buchmesse ist Georgien. Die Aufmerksamkeit, die Bücher auf eine bestimmte Nationalliteratur und damit auf eine Nation lenken, ist imstande, ganz alleine ihren Wert zu zeigen. Es gibt neben den vielen georgischen Autoren, die nun oft erstmals ins Deutsche übersetzt werden, etliche andere, die ihrer Entdeckung harren – und darüber hinaus in den oft üppigen Verlagsprogrammen beinah unendlich viele Buchtitel, die auf Leser warten. Am Montag wurde der Deutsche Buchpreis verliehen, am Sonntag, zum Abschluss der Buchmesse, erhalten die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann in der Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Man würde mehr als ein Jahr rund um die Uhr lesen müssen, mindestens, wollte man alle Neuerscheinungen dieses Jahres einer Lektüre unterziehen wollen. Das ist schlicht unmöglich. Die Abendblatt-Kulturredaktion stellt auf dieser Seite einige der interessantesten Titel des Literaturherbstes vor und wünscht ein gutes Lesen mit immer warmen Füßen. (tha)

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Nemecs zweiter Fall

Das Vorhaben war fraglos eitel. Da schrieb ein prominenter Fernsehkommissar seinen ersten Roman, einen Krimi, und wen machte er zur Hauptfigur? Sich selbst! Das muss man sich erst mal trauen – dann aber am besten so: „Tatort“-Kommissar Miroslav Nemec (bekannt als Münchner Kommissar Ivo Batic) ließ vor zwei Jahren einen Schauspieler namens Miroslav Nemec (bekannt als Ivo Batic) ermitteln – in seinem höchst vergnüglichen, durch und durch selbstironischen Debüt „Die Toten von der Falk­neralm“. Untertitel: „Mein erster Fall“. Da ahnte einer schon, dass er gut ankommen würde (oder hatte schlicht Humor). Beides stimmt: „Kroatisches Roulette – Mein zweiter Fall“ erscheint in wenigen Tagen bei Penguin (20 Euro). Diesmal muss Nemec nicht nur ermitteln (übrigens in seinem Geburtsland). Diesmal ist er selbst der Hauptverdächtige. Nebenbei erfährt man viel über die kroatische Herkunft – und die Kochkünste – des Schauspielers. Also, des Autors. Klarer Fall von Mehrfachbegabung. (msch)

Nach Jahren der Ehe

Gerry und Stella sind schon lange miteinander verheiratet. Er hat als Architekt gearbeitet, sie als Lehrerin. Für ein langes Wochenende fliegen sie von Schottland nach Amsterdam. Ihr Umgang miteinander ist liebevoll, aber langsam werden Risse an der Oberfläche deutlich. Gerry trinkt zu viel, und Stella liebäugelt mit der Religion. Ihre Gespräche drehen sich um Politik, Glauben, Fanatismus, Liebe – und die Treulosigkeiten ihrer alternden Körper. Der nordirische Autor Bernard MacLaverty schildert in „Schnee in Amsterdam“ (C. H. Beck, 22 Euro) ungeheuer feinfühlig und mit großer Zärtlichkeit, wie sich das Ehepaar mal liebevoll, mal gehässig belauert. Richard Ford, der neue Träger des Siegfried-Lenz-Preises, hat über dieses Buch zuletzt geschrieben, es sei „heftig erwartet“ worden. MacLaverty hat tatsächlich 16 Jahre gebraucht, um den Roman fertigzustellen. 1997 kam sein Buch „Annas Lied“ auf den Markt. Es geht darin um eine Komponistin, die mühsam ihre Schreibblockade überwindet. (vob)

Gefährlicher Kaffee

Dave Eggers ist der Duracellmann der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Seine Buchproduktion versiegt nie. Neben überragend konventionellen zeitdiagnostischen Romanen wie „Ein Hologramm für den König“ und „The Circle“ schrieb er die auf realen Ereignissen und Personen beruhenden Bücher „Zeitoun“ und „Weit gegangen“. Sein Werk beruht zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf Nonfiction, und in diesen Bereich zählt auch das gelungene neue Werk „Der Mönch von Mokka“ (Kiwi, 22 Euro), der wie die genannten Titel den Beweis antritt, dass die Realität die besten Geschichten bereithält. Eggers porträtiert den aus dem Jemen stammenden, noch nicht 30-jährigen Amerikaner Mokhtar Alkhanshali, der den Plan fasst, in seiner neuen Heimat den Kaffee aus der alten zu fairen Preisen zu verkaufen. Kein leichtes Unterfangen, auch angesichts der Tatsache, dass Bomben den Jemen bedrohen. Man kann sagen, dass Mokhtar unter Einsatz des Lebens für seinen Kaffee kämpft, Eggers erzählt seine Geschichte spannend wie einen Roman. (tha)

Fleisch bügeln

Ruths Vater Howard ist 60 Jahre alt, erfolgreicher Geschichtsprofessor und an Alzheimer erkrankt. Als ihre Mutter Ruth zu Weihnachten bittet, das nächste Jahr wieder in das Haus ihrer Eltern zu ziehen, hat die noch junge Protagonistin gerade den Boden unter den Füßen verloren, denn ihr Verlobter hat sie verlassen. Ruth braucht einen Neuanfang, und daher kommt sie dem Wunsch ihrer Mutter nach. Im Lauf des auf diesen Umzug folgenden Jahres nähert sie sich nicht nur wieder ihren Eltern an, sondern findet auch zu sich selbst. Die Ich-Erzählerin beschreibt das Jahr in ihrem Elternhaus in knappen, tagebuchartigen Einträgen. Tragik, aber auch Komik, Trauer und Freude schwingen immerzu leise mit, wenn es nicht nur um die Krankheit des Vaters, sondern um Familie, Liebe, Freundschaft, begangene Fehler und die Verarbeitung von unwiderruflich Vergangenem geht. Rachel Khongs Debütroman „Das Jahr, in dem Dad ein Steak bügelte“ (Kiepenheuer & Witsch, 19 Euro) ist ein kurzweiliges Buch über eine relevante Thematik. (kil)

Reise zu den Wurzeln

Im Theater muss man vielleicht ein wenig mehr Humor haben als in anderen Berufen. Die Erkenntnis gewinnt jedenfalls, wer Adriana Altaras wirklich sehr komisches Buch „Die jüdische Souffleuse“ (Kiepenheuer & Witsch, 20 Euro) liest. Opernregisseurin Adriana wird zerrieben zwischen exzentrischen und unwilligen Musiktheater-Stars, Stimmpro­blemen, technischen Desastern. Obendrein nötigt sie in all dem Chaos auch noch die jüdische Souffleuse Sissele, gemeinsam die Suche nach ihren im Zweiten Weltkrieg verschollenen Verwandten anzutreten. Ab hier verwandelt sich die Erzählung in ein Roadmovie mit manch überraschender Selbsterkenntnis der beiden Frauen. Altaras gelingt es, mit akkurater Beobachtung, viel Selbstironie, Freude an Details, vor allem aber Liebe zu den Figuren mit all ihren Macken, diese Tragikomik unterhaltsam, berührend und lesenswert auszubreiten. Gekonnt verbindet sie Historie, Judentum und Künstlerwelt, auf die manch einer beim nächsten Theaterbesuch mit anderen Augen blicken dürfte. (asti)

Die Verschwörer

Die 90er-Jahre waren unschuldig, aber das gilt ja fast immer in Bezug auf irgendwas, wenn man an ein Früher denkt. Hinsichtlich der Verschwörungstheorien war ebenjenes Jahrzehnt, so sagen es die Buchautoren Christian Alt und Christian Schiffer zu Recht, so unendlich harmlos. Man schaute „Akte X“ oder fragte sich mit staunendem Blick, wie überhaupt jemand glauben kann, dass die Mondlandung der Amis nicht gefakt war. Heute ist leider alles anders. Verschwörungstheoretiker haben oft eine bitterböse Agenda und untergraben die Demokratie und den aufklärerischen Gedanken – mindestens. Die Sache mit den Chemtrails ist nur eine der zwischen Wahn und Doofheit changierenden Theorien, die Eingang in das smarte und verzweifelte Buch „Angela Merkel ist Hitlers Tochter“ (Hanser, 18 Euro) gefunden hat. Die Autoren erfinden eigenen Bullshit („Die Rauchmelderverschwörung“), besuchen bekennende Aluhüte, drehen auf YouTube hohl, besichtigen das Jahrhundert des Fakes und verteidigen dabei auf jeder Seite den Wert des wahren Wissens. (tha)

Nur online lebendig

Die 23-jährige Romanheldin Colleen führt ein ödes Leben in Tucson, Arizona. Der Job an einem Marktforschungsinstitut füllt sie nicht aus. Sie ist ganz und gar ein Paradigma der Zeit, in der sie lebt: Lebendig wird sie nur, wenn sie online ist. Im Netz hat sie die Möglichkeit, sich neu zu erfinden, berauscht von ihrem eigenen, an Klickzahlen nachzuverfolgenden Marktwert. Zum Internet-Star wird sie, als sie vom geheimnisvollen Jim entdeckt wird. Mit großer Sorgfalt inszeniert ­Natasha Stagg in ihrem Roman „Erhebungen“ (Edition Nautilus, 19,90 Euro) eine Reise, die die beiden an verschiedene Orte der USA und anderer Länder bringt. Sie besuchen gesponserte Partys, legen auf, sind einfach nur anwesend und verdienen als professionelle Narzissten groß am Hype um ihr Image. Aber die Situation entgleitet Colleen, Lucinda taucht auf, die ihre Online-Persona genauso stetig neu erfindet wie Colleen, nur immer ein klein wenig besser. Erzählt in einem extrem nüchternen Stil, ist „Erhebungen“ ein Roman über Aufstieg und Fall in Zeiten von Social Media. (kil)

Berückende Sinnsuche

Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Manche Liebende fängt sie ihr ganzes Leben lang ein und lässt nicht mehr los, auch wenn die Umstände widrig sind. Die intensivste Liebe ist ja bekanntlich die erste. Sie widerfährt der jungen Turinerin Teresa in Paolo Giordanos „Den Himmel stürmen“ (Rowohlt, 22 Euro). Im Haus der Großmutter im südlich entspannten Apulien entwickelt sie Gefühle für den geheimnisvollen Bern, als sie ihn eines Nachts beim Nacktbaden im Pool erblickt. Doch auf jeden Sommer folgt ein Abschied. Und bald liegen jeweils etliche Jahre zwischen den zufälligen Wiedersehen der beiden. Giordano beschreibt die Irrungen und Wirrungen der Liebenden – Öko-Kommune hier, Familienabschiede da – einfühlsam und lebensweise, ohne übertriebene Romantisierung. Hinter dem Thema Jugendliebe beschäftigt den Autor, vor zehn Jahren berühmt geworden mit „Die Einsamkeit der Primzahlen“, die archaische Sehnsucht des Menschen nach dem Sinn für seine Existenz. Dies trägt den Leser über mehr als 500 erstaunlich fesselnde Seiten. (asti)

Erste Liebe

Mit dem missglückten Sprung von einer Skischanze fängt alles an. Oder genauer: mit der Trostschokolade, die es wegen des resultierenden Beinbruchs gibt. Denn die führt beim „jungen Mann“ im gleichnamigen Roman von Wolf Haas zu ordentlichem Übergewicht. Und das wiederum zu einem mit jugendlicher Vehemenz durchgezogenen Diätplan, nachdem er sich rettungslos in die Freundin eines Lkw-Fahrers verliebt hat. „Ein halbes Jahr konzentrierte ich mich darauf, schneller zu laufen und langsamer zu essen“, heißt es da. Alles, damit die Schöne irgendwann die magischen vier Worte sagt: „Dünn bist du geworden.“ Und sich der amouröse Rest ganz selbstverständlich ergibt. „Junger Mann“ (Hoffmann und Campe, 22 Euro) ist ein wunderbar leichtes, bisweilen herrlich lakonisches Buch und dabei ganz nah dran an den prickelnden Herzklopf-Momenten des ersten großen Verliebtseins. Dass es doch ein bisschen anders kommt: kein Pro­blem. Die Trostschokolade wird trotzdem nicht mehr gebraucht. (hot)

Dänenthriller

Nach seinem Debüt, das 1997 erschienen ist, hat sich der dänische Autor Jens Henrik Jensen spezialisiert – auf Trilogien. Das ist so ungewöhnlich wie der Held seiner jüngsten, der mittlerweile dritten Thrillertrilogie: Niels Oxen heißt der Mann, war einst Elitesoldat und kämpft drei Bände lang gegen einen einflussreichen Geheimbund, der sich Danehof nennt. Jensen, früher investigativer Journalist, schreibt seine auch gesellschaftskritischen Geschichten ungemein packend, mit charismatischen Charakteren, er scheut keinerlei Action, doch immer ergibt sie Sinn, ist nicht um ihrer selbst willen inszeniert. In „Oxen. Gefrorene Flammen“ (dtv, 16,90 Euro), dem Abschluss der Trilogie, will der vom Krieg traumatisierte Niels Oxen vor allem nur noch eines: Rache. Und dafür ist ihm jedes Mittel recht. Oder sagen wir: fast jedes. Jens Henrik Jensens faszinierende Oxen-Trilogie hat internationales Thrillerformat. (va)

Dänentriple

„Gefährten“ hat die dänische Erzählerin Christina Hesselholdt ihren aktuellen Roman genannt (Hanser, 25 Euro), doch durch dick und dünn gehen die drei Paare nicht mehr, um die es in diesem Episodenwerk geht. Camilla und Charles, Alwilda und Edward, Alma und Kristian: Sie sind Ärzte, Künstler, Schriftsteller. In Monologen erinnern sie sich an Reisen und glücklichere Tage, reflektieren ihre Situation, mokieren sich über die Macken und Empfindlichkeiten ihrer Partner oder sehnen sich nach neuer Leidenschaft. Die drei Frauen, zwischen 40 und 50 Jahre alt, sind allesamt lebenshungriger als ihre Männer. Sie ziehen den Leser hinein in ihre Gedankenwelt, und weil Hesselholdt präzise und mit viel Lakonie und Komik erzählt, sind diese Lebensbeichten eine spannende Lektüre für Erwachsene. Auch die vielen literarischen Anspielungen auf Emily Brontë, Virginia Woolf und andere steigern das Lesevergnügen dieses leicht geschriebenen Romans. (oeh)