Bremen. 27 Konzerte an einem Abend: Das 30. Musikfest Bremen begann mit der „Großen Nachtmusik“.

Ein warmer Abendhauch streicht über den Bremer Marktplatz. Voll ist es, aber es herrscht kein Gedränge und Geschiebe. Die Menschen sind einfach nur da, ohne irgendein Ziel erreichen zu müssen, es summt vor fröhlichen Stimmen. Kündeten die prächtigen Fassaden nicht von der stolzen Geschichte einer Hansestadt, könnte man sich in Italien wähnen. Zwei junge Männer mit Baseballcaps und Bizeps-Tattoos bahnen sich einen Weg durch die Menge. „Ey Digger, wasn hier los?“, fragt der eine, und der andere gibt knapp zurück „Heut is Musikfest.“ Der Unterton dazu geht etwa so: Ist doch klar, Mann, was fragst du?

Das Bremer Musikfest gehört allen. Und ganz besonders natürlich die „Große Nachtmusik“, mit der die 30. Auflage des Festivals ihre Eröffnung feiert. Rund um den Marktplatz finden zu drei Uhrzeiten in acht Spielstätten insgesamt 27 Kurz-Konzerte statt. Jeder Hörer kann aus dieser Bonbonschachtel drei auswählen. Und zwischendurch kreuzen sich alle Wege auf dem Marktplatz.

30 Jahre Musikfest, das ist eine Erfolgsgeschichte, die wesentlich mit der Person des Intendanten Thomas Albert zusammenhängt. Mit Charme, Charisma und der notwendigen Chuzpe schafft er es immer wieder, Politik und Wirtschaftsvertreter auf das Musikfest einzuschwören. 720.000 Euro gibt der Bund 2019 dazu, der TV-Sender Arte streamt erstmals live. „Die Bilder gehen in die ganze Welt“, sagt Albert beim Empfang im Rathaus, „machen Sie ein freundliches Gesicht!“ Lacher in der Festgemeinde.

Anna Netrebko kommt

Alberts Hauptanliegen ist die über alle Grenzen hinweg verbindende Kraft der Musik. Im Kleinen durch Einbindung der niedersächsischen Nachbargemeinden in das Festivalprogramm – und im Großen durch das beeindruckend internationale und hochkarätige Line-up der beteiligten Künstler. Selbst Anna Netrebko kommt in diesem Jahr. Sein einzigartiges Profil verdankt das Festival aber gerade nicht beliebigem Namedropping, sondern der so kundigen wie eigenwilligen Verbindung von Blockbustern und Kostbarkeiten mit Seltenheitswert.

Im Haus Schütting, als Sitz der Handelskammer das schlagende Herz einer Kaufmannsstadt, gastiert das französische Quatuor Hermès, passenderweise benannt nach dem griechischen Schutzgott der Kaufleute. In Schuberts „Rosamunde“-Quartett bringen sie jede Phrase zum Atmen. Schon das Murmeln der zweiten Geige am Anfang zieht das Publikum wie an einem Zauberfaden hinein ins Geschehen, so beredt und beseelt gestaltet es Elise Liu.

Der erste Geiger Omer Bouchez greift tief in die Kiste romantischer Ausdrucksmittel. Harsche, vertikale Akzente? Mon dieu, hier nicht. Phänomenal fein hören die Musiker aufeinander und entfalten einen Klangfarbenzauber, der seine französische Prägung nicht verleugnen kann. Die Leute lauschen wie gebannt. Niemand hat einen Blick für das Rathaus auf der anderen Seite des Platzes übrig, dessen Skulpturen das letzte Abendlicht vergoldet.

Eröffnung des 30. Musikfest Bremen
Eröffnung des 30. Musikfest Bremen © Foto: Nikolai Wolff, Fotoetage | Nikolai WolffFotoetage

Draußen auf dem Platz lassen sich die Menschen in Richtung des nächsten Konzertbonbons treiben, Wraps oder Weißweingläser in der Hand. Sprechen über das Gehörte, treffen auf Touristen, die zufällig hergeraten sind und sich gerne von der Feststimmung ergreifen lassen; irgendwo im Gewimmel sammeln sich junge Frauen in orangefarbenen T-Shirts mit dem vielsagenden Aufdruck „JGA Jessica“. Ein junges Paar hat von den Eltern des Mannes Karten geschenkt bekommen. „Das Gute ist, dass man nicht so lange dasitzen muss. Ich fand es ganz interessant. Aber ich würde dafür kein Geld ausgeben“, sagt er.

Saal tobt vor Begeisterung

Wie anders reagieren die Hörer in der Glocke auf das Rotterdam Philharmonic Orchestra! Mit der norwegischen Geigerin Vilde Frang spielt man das Violinkonzert von Bruch. So hochsensibel und nuancenreich, in so innigem Dialog zwischen Solo und Tutti hört man das Werk nicht alle Tage. Das Orchester nimmt Frangs haarfeine Nuancen auf, oft verschmelzen Sologeige und Orchester ineinander. Der Saal tobt vor Begeisterung, dann servieren das Orchester und der junge Dirigent Lahav Shani „La Valse“ von Ravel, diese Umkehrung aller Wiener Gemütlichkeit in Zweifel, Entsetzen und Kriegsgeschrei.

Es ist Nacht geworden. Laserstrahler weben ein Netz aus Lichtsäulen in den Himmel. Vor der Rolandstatue lässt sich ein älterer Herr fotografieren, lachend reckt er die Faust mit der Schirmmütze in die Höhe. Die Ströme zwischen den Konzertorten werden dichter. Hin und wieder schiebt sich eine Straßenbahn im Schritttempo durch das Publikum. Keine Spannung, nirgends.

Stücke sind langatmig

Etwas Spannung fehlt auch den Voces Suaves. Die Stimmung in der Backsteinkirche Unserer Lieben Frauen ist hochkonzentriert, aber das Programm „Monteverdis Muse – Ein musikalisches Porträt von Caterina Martinelli“ nimmt nicht recht Fahrt auf. Die Briefrezitationen sind schwer zu verstehen, die Stücke hin und wieder langatmig. Doch der berückende Ensembleklang und die spirituelle Dichte dieser frühen Musik versetzen die Hörer in Trance – mit Neigung zum Wegdämmern.

Draußen funkeln die Sterne. Es wird leerer auf dem Marktplatz. Die Häuser leuchten noch stolz und still. Hier und da wandeln späte Besucher und lassen den Abend nachklingen. Jeder seinen.

Bis 14.9. Infos,Karten: www.musikfest-bremen.de