Hamburg. Freiluftbühnen werden leiser, empfinden viele Besucher im Stadtpark und bei Open-Air-Konzerten. Nur ein Gefühl oder Tatsache?

Alter, mach mal die Gitarren an!“, „Lauter, lauter!“, „Hamburg, wir hören nichts!“: Wer in den vergangen Jahren bei Rockkonzerten auf der Freilichtbühne im Stadtpark war, bei Alter Bridge, Limp Bizkit oder Alice In Chains etwa, hat weniger die Bands gehört als die Sprechchöre Tausender Fans kurz nach Konzertbeginn und die Ansagen der Musiker, die sich für die Akustik entschuldigten. „Nächstes Mal spielen wir lauter“, versprach Alice-In-Chains-Gründer Jerry Cantrell beim Konzert der brettharten Seattle-Rocker vor einem Monat. Aber dieses nächste laute Konzert wird wohl anderswo stattfinden müssen ...

Dabei ist Hamburg Freiluft-Rockcity. Fast 40 Konzerte sind für 2019 im Stadtpark geplant, dazu kommen zwischen Wilhelmsburg, Allermöhe und Bahrenfeld Festivals wie Dockville, Spektrum, Wutzrock, Elbriot, Elbjazz, Futur 2 und Rockspektakel, Konzerte auf der Trabrennbahn, der Knust-Lattenplatz, die Zeltbühnen „Schanzenzelt“ und „Sommer in Altona“ sowie ungezählte Freiluft-Technopartys im Elbpark Entenwerder, im BallinPark auf der Veddel, im Harburger Stadtpark oder am Neuhöfer Strand. Nicht zu vergessen das Musikprogramm bei Hafengeburtstag und Harley Days, Schlagermove, Dom und Pride Week und bei den Straßen- und Stadtteilfesten. Das alles in einer Stadt, in der die Anwohner immer näher zusammenrücken müssen. Krach und Lärmemissionen sind Dauerthema in den Medien, in den Sozialen Netzwerken, in den Bezirksversammlungen und im Senat.

Kontrollen wegen Anwohnerbeschwerden

Und so drehen die Behörden den Konzerten unter freiem Himmel gefühlt immer weiter den Saft ab, wie wütende Facebook-Kommentatoren vermuten. Das ist aber nicht so, vielmehr achten sie lediglich strenger darauf, dass die seit 1968 bestehende und zuletzt 2017 aktualisierte Vorschrift „Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm“ bei „seltenen Störereignissen“ korrekt befolgt wird. Sie schreibt in langen Zahlenkolonnen vorgeschriebene Dezibelgrenzwerte je nach Lärmquelle, Bebauung, Uhrzeit und diversen weiteren Faktoren vor. Und nach diesen Richtlinien erstellen die zuständigen Fachämter für Verbraucherschutz, Gewerbe und Umwelt der Bezirke ihre Genehmigungen und Auflagen für Freiluftkonzerte und ähnliche Veranstaltungen. Diese Auflagen werden, wie das Bezirksamt Altona bestätigt, tendenziell sorgfältiger überwacht als noch vor zehn Jahren, „als Reaktion auf vermehrte nachvollziehbare Bürgerbeschwerden.“

Die Toten Hosen im August 2018 bei ihrem Open-Air-Konzert auf der Trabrennbahn in Bahrenfeld.
Die Toten Hosen im August 2018 bei ihrem Open-Air-Konzert auf der Trabrennbahn in Bahrenfeld. © Roland Magunia

Am Beispiel Stadtparkbühne heißt das: Beim nächstgelegenen Wohnhaus dürfen während eines Konzertes „vor den Fenstern im Freien“ als Dauerschallpegel im Fünfminutentakt maximal 70 Dezibel ankommen, was einem Wasserkocher oder einem laufenden Wasserhahn entspricht. Faustregel: Je weiter weg die nächsten Anwohner sind, desto lauter darf es für das direkte Publikum ballern, wie lange Zeit beim Metalfestival „Elbriot“ auf dem Großmarktgelände. Von dort waren es bis zum nächsten Messpunkt-Wohnhaus einst knapp 400 Meter, dazwischen lagen mehrere Industriehallen, Gewerbehöfe, ein S-Bahn-Viadukt und die sechsspurige Amsinckstraße. Allerdings kommt die HafenCity immer näher, was bereits dem Techno-Club Moloch im Oberhafenquartier zum Verhängnis wurde.

Wohnungsneubauten rücken an Stadtparkbühne

An den Stadtpark werden die Nachbarn durch die Bebauung des Alten Güterbahnhofs am Rübenkamp und des Neubaugebiets „Pergolenviertel“ zeitnah bis auf 100 Meter herangerückt sein. Da musste selbst der König der Freilichtbühne, Lotto King Karl, sein 50. Stadtparkkonzert leiser spielen als das erste im Jahr 2001: „Ja, leider. Ich bin ja auch Anwohner und weiß, dass das manchmal nervt“, sagte er kürzlich im Abendblatt, „aber wenn du Kultur im Stadtpark haben willst, muss man eben Kompromisse eingehen.“

Am Mischpult, also in der letzten Stadtpark-Zuschauerreihe, 36 Meter von der Bühne entfernt, kommen um die 90 Dezibel an – ein Automotor aus kurzer Entfernung. Da kann man sich noch recht problemlos unterhalten. Bei Club- und Hallenkonzerten empfehlen Arbeitsschutznormen nicht mehr als 99 Dezibel (Presslufthammer), gesundheitsschädliche Überschreitungen sind aber nicht unüblich. Schon eine Pegelerhöhung um nur 3 Dezibel bedeutet eine Verdoppelung der Schallenergie, was veranschaulicht, wie leise es im Stadtpark ist. Oder „gefühlt“ leise.

Seit sieben Jahren keine Anwohnerbeschwerden

Das ist der nicht messbare Bereich der Psychoakustik, die individuell und subjektiv wahrgenommenen „Lautheit“. Zusätzlich beeinflussen persönliche Gewohnheiten und Vorlieben, unterschiedliche Frequenzen und Tonhöhen der Popgenres, Wind und Wetter, Zuschauermengen und vor allem das Geschick der jeweiligen Toningenieure am Mischpult die Herausforderung, Bands, Fans und Anwohner gleichermaßen zufriedenzustellen.

Die Überwachung ist jedenfalls streng. Der Stadtpark-Veranstalter, die Karsten Jahnke Konzertagentur, muss für jeden Abend einen Systemtechniker mit genormtem Schallmessgerät und Kontakt zu Polizei und Fachbehörden abstellen, seine Messungen werden in Echtzeit am Mischpult und im Produktionsbüro backstage angezeigt, protokolliert und nach Konzertende an das Amt übermittelt. Auch die Behörden kontrollieren regelmäßig stichprobenartig. Bei eindeutiger Überschreitung der Richtwerte an den Kontrollpunkten oder Überschreiten der Nachtruhe von 22 Uhr sind vertraglich Bußgelder zwischen 1000 und 4000 Euro festgelegt. Aber die Crew im Stadtpark, die seit einigen Tagen mit Messingenieuren den Sound im Stadtpark weiter optimiert, macht offensichtlich einen sehr guten Job: Seit 2012 hat es bei über 200 Konzerten keine Anwohnerbeschwerden mehr gegeben.

Rolling Stones durften länger spielen als andere

Beschwerden von Fans und Bands gibt es allerdings schon. Rockkonzerte sind selten in Winterhude, und nicht wenige Besucher haben ihre Lieblinge vorher nur Clubs und Hallen oder auf anderen Open-Air-Bühnen gesehen. „Ich würde auch gern so laut spielen wie die Stones, gleiches Recht für alle“, sagte Lotto King Karl im Rückblick auf den in vielerlei Hinsicht umstrittenen Auftritt der Rolling Stones 2017 auf der Festwiese im Stadtpark.

Tatsächlich sind bei einzelnen, weniger als 10 Mal im Jahr stattfindenen Veranstaltungen wie den Stones oder Marteria & Casper im August auf der Bahrenfelder Trabrennbahn Ausnahmen wie die Verschiebung der Nachtzeit von 22 Uhr auf 23 Uhr möglich. Auch „kurzzeitige Geräuschspitzen um nicht mehr als 20 dB“ über dem Richtwert wurden bislang toleriert, solange es um einzelne Sonderveranstaltungen oder um „Brauchtumspflege“ (Hafengeburtstag zum Beispiel) geht. Übertreiben sollte man es aber nicht. Nach Anwohnerbeschwerden und Überschreitungen der Richtwerte beim Konzert der Foo Fighters 2018 auf der Trabrennbahn wurde Veranstalter FKP Scorpio vom Bezirksamt Altona im Falle einer Wiederholung beim Auftritt von Ed Sheeran mit „fühlbaren Sanktionen“ bis hin zum Konzertabbruch gedroht.

Bands drehen Anlagen eigenmächtig lauter

Dabei liegen Sanktionen als Letztes im Interesse der Veranstalter. So hatte auch popup-records, seit 2017 Veranstalter der Zeltkonzerte „Sommer in Altona“ im Park am Nobistor, in der ersten Saison mit Beschwerden zu kämpfen. Durch die direkte Nachbarschaft mit den Anwohnern beschränkt man sich dort zumeist auf 55 Dezibel (Regen, Kühlschrank), einzeln auf 70 Dezibel, aber es ist gefühlt wirklich sehr leise dort und auch im „Schanzenzelt“ im Schanzenpark. Das sorgte für Unmut, und einige Bands und Künstler drehten, sehr zum Ärger und Schaden der auf gute Nachbarschaft bedachten Veranstalter, bei „Sommer in Altona“ eigenmächtig die Anlage oder ihre mitgebrachten Verstärker voll auf.

Der Bezirk reagierte, indem er mittlerweile jährlich ein 30 Seiten langes Lärmschutzgutachten anfordert, zu bezahlen vom Veranstalter. Zusätzlich zum hauseigenen Techniker wird jeweils eine unabhängige Lärmschutzgutachterfirma bestellt, die die maximale Aussteuerung am Pult festlegt und dort ein befestigtes, zertifiziertes Messgerät verplombt. Nach Konzertende werden nicht nur die Messdaten an das Fachamt geschickt, sondern auch eine Tonaufzeichnung des Konzerts.

Mittlerweile reagieren die Veranstalter auch programmatisch auf die Umstände. Rock und Metal werden in die Clubs gebucht, Folk, Pop und Songwriter bestimmen den Sound im Grünen. So wird Alice In Chains beim nächsten Hamburg-Gastspiel wohl wieder wie früher zurück ins Gruenspan oder in die Große Freiheit 36 ziehen, zusammen mit den Fans, die Musik nur mögen, wenn sie laut ist. Nicht nur gefühlt, sondern deutlich spürbar bis in die Magengrube.