Hamburg. Sebastian Rudolph gehörte zu den Protagonisten am Thalia Theater. Jetzt wechselt er mit seiner wichtigsten Rolle nach Zürich.

Wenn Sebastian Rudolph in Oevelgönne auf seiner Terrasse steht, sieht er die Elbe, die Schiffe, die Hafenkräne. Viel schöner, viel hanseatischer kann man in Hamburg kaum wohnen. Der Schauspieler schirmt die Augen mit der rechten Hand gegen die Sonne, sein Blick über den Strom ist zugleich ein Abschiedsblick. Rudolph tauscht die Elbe gegen den Zürcher See. Zehn Jahre lang war er am Thalia Theater engagiert. Die vergangene Spielzeit war nun seine letzte am Alstertor. Sebastian Rudolph wechselt mit seiner Frau Alicia Aumüller, ebenfalls bislang Thalia-Ensemblemitglied, ans Schauspielhaus Zürich, ins neue Ensemble unter dem Intendantenteam Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg. Veränderung sieht er als Chance – für sich persönlich, für das Thalia. Tatsächlich, glaubt Rudolph, geht gerade eine ganze Branche neue Wege.

Wie schnell haben Sie Nicolas Stemann zugesagt, als er Sie fragte, ob Sie mit ihm nach Zürich wechseln?

Sebastian Rudolph In derselben Sekunde.

Kein Zögern? Keine Sentimentalität?

Das kam alles später. Wir haben schon so lange darüber geredet, dass er diesen nächsten Schritt gehen muss und dass ich den mit ihm gehen will. Wenn er mich nicht gefragt hätte, hätte ich ihn angerufen. Mir wäre auch egal gewesen, in welche Stadt er geht. Nun ist es Zürich, wo ich schon einmal fünf Jahre gelebt habe, als ich bei Christoph Marthaler engagiert war. Ich bin da sogar noch in den Ämtern gespeichert! Aber ich würde jetzt nicht mehr in dasselbe Viertel wie damals ziehen wollen. Das ist krass schick geworden. Und wir waren mit dem Zürcher Schauspielhaus im Schiffbau damals wohl ein Vorreiter dieser unglaublichen Luxussanierung. Das haben wir gar nicht so geschnallt, wie sehr wir da mitgentrifiziert haben. Jetzt ist da nur noch allerhöchstpreisiger Wohnraum, das ist schon ganz schön hart.

Unterscheidet sich das Zürcher Publikum wahrnehmbar von den Zuschauern hier in Hamburg?

Ja, schon. Der größte Unterschied ist wahrscheinlich, dass das Theater in Zürich immer Stadtgespräch ist. Auch unter den Leuten, die gar nicht Publikum sind.

Geht es dabei um Inhalte – oder ums Geld?

Ums Geld geht es in der Schweiz immer. (lächelt) Aber die Doppelspitze aus Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg zu holen und zu wollen, das ist schon auch inhaltlich mutig. Bloß wenn die Mutigen dann auch Mutiges tun, können sie eben auch schnell für Ärger sorgen … Und ohne, dass ich es darauf anlege, dass wir Krach kriegen – ich glaube, das wird uns, wie damals Marthaler, auch passieren.

Auch weil da zwei Deutsche kommen, die in der Schweiz Theater machen?

Schwer einzuschätzen. Ich habe damals richtige Deutschenfeindlichkeit erlebt. Mir wurde auf der Straße „Hau ab hier“ hinterhergerufen und in der Tram vorgeworfen, ich würde den Schweizern den Platz wegnehmen. Wenn man Europameisterschaft geguckt hat, wurde über eine gelbe Karte gegen Deutschland so gejubelt, als hätte die eigene Mannschaft ein Tor geschossen. Also, es gab da schon eine Phase, da hatte man es als Deutscher in der Schweiz nicht so leicht. Aber ich habe von vielen gehört, dass sich das mittlerweile geändert habe. Ich bin sehr gespannt.

Nicolas Stemann hat in der „Zeit“ gesagt, die Kämpfe, die man als Deutscher so gewohnt ist, nach denen man dann weiß, ob man gewonnen oder verloren hat, die gebe es dort nicht: „Die Freundlichkeit ist eine Waffe, an der man abgleitet.“ Ist das auch Ihre Erfahrung?

Man macht als Deutscher gern den Fehler, dass man glaubt, in die Schweiz zu ziehen sei, als würde man nach Rheinland-Pfalz fahren oder nach Hessen. Viele glauben, die sprechen halt ein bisschen anders, ansonsten ist es aber gleich. Und das stimmt nicht. Die Schweizer sind ein anderes Volk. Schweizerdeutsch ist eine andere Sprache – man denkt in dieser Sprache auch anders. Und wenn wir meinen, dass jemand Schweizerdeutsch spricht, ist es doch meist ein Schweizer, der sich gerade bemüht, Hochdeutsch zu sprechen. (lacht) Die sind so unglaublich höflich. Wir haben eine Streitkultur – die haben eine Konsensdemokratie. Und das betrifft alle Bereiche des Lebens. Da eckt man als Deutscher manchmal an. Natürlich kann das Anecken auch produktive Züge haben, trotzdem sollte man nicht glauben, dass es auch „Ja, ja“ heißt, wenn einer „Ja, ja“ nickt … Die Schweiz kann aber auch so toll sein und ganz anders, als man vielleicht unterstellt: Mein zweites Kind ist damals dort geboren, und ich bin auf dem Weg in den Kreißsaal über Rot gefahren und habe einen Strafzettel bekommen. Als ich da angerufen habe und die Situation erklärt habe, musste ich den nicht bezahlen. Das war sofort klar. Erwartet hätte man vielleicht Bürokratie.

Nun gehen Sie ja nicht nur nach Zürich – Sie gehen auch aus Hamburg weg. Ihre gesamte Familie ist mit der Hamburger Theatergeschichte verwoben, Ihre Eltern waren beide hier engagiert, Ihr Vater war eine Zeit lang Intendant am Schauspielhaus, Ihr Onkel kam unter Jürgen Flimm ans Thalia. Ihre Zeit am Thalia Theater war vermutlich mehr als nur ein Engagement ...

Stimmt ...

Und jetzt ist es dann auch mal gut?

Im Nachhinein würde ich sagen: Ja. Ich war jetzt zehn Jahre fest am Thalia. Nach vier, fünf Jahren habe ich tatsächlich gedacht, dass eine neue Phase meines Lebens angebrochen sei: Wow, jetzt bleibe ich mal an einem Ort. Vielleicht für immer! Ich wollte das als neue Erfahrung ausprobieren. Das Bleiben. Ab dem Moment, in dem ich mich dann für Nicolas Stemann entschieden habe, habe ich aber sofort gemerkt, wie richtig sich das anfühlt. Und es ist keine Flucht – auch wenn ich schon das Gefühl hatte, mich zuletzt ein bisschen eingerichtet zu haben. Ich finde es auch toll, dass sich am Thalia in den nächsten Jahren wieder Dinge verändern werden, das ist ja für das Haus auch eine Chance.

Es werden sich zwangsläufig Dinge verändern, denn nicht nur Sie und Alicia Aumüller verlassen das Ensemble, auch Jörg Pohl geht, der wiederum mit dem bisherigen Thalia-Hausregisseur Antú Romero Nunes künftig das Theater in Basel leiten wird. Wenn die ihr Ensemble zusammenstellen, werden Sie womöglich noch andere Thalia-Schauspieler nachholen … Kann man sagen, dass am Thalia gerade etwas zu einem Ende findet?

Vielleicht. Veränderung gehört ja auch zu so einem Theater. Es hätte sicher Spaß gemacht, einen Neuanfang mitzugestalten. Der Intendant Joachim Lux ist ja ein sehr treuer Mensch, der hätte sich vielleicht gewünscht, die notwendigen Veränderungen mit den Menschen zu gestalten, die den Weg auch bislang mit ihm gegangen sind. Aber das ist ja nicht immer möglich. Jetzt kommt der Veränderungsdruck ein bisschen von außen und womöglich ist das auch ganz gut – ich bin mir sicher, dass Joachim Lux das umsetzen kann. Das traue ich ihm zu, der weiß schon, was er tut, das schafft er auch in einer neuen Konstellation.

„Es ist mein Job, empfindlich zu sein“, haben Sie Ihren Beruf mal beschrieben. Wie legt man das ab, wenn man nicht mehr auf der Probe oder in der Vorstellung ist?

Das kann man gar nicht ganz ablegen. Man reißt sich halt manchmal anders zusammen. Ich krieg es mit zunehmendem Alter besser hin. Früher hat mir diese Empfindlichkeit im Alltag manchmal eine Fremdheit beschert. Die Welt war dann zu schnell oder zu laut oder zu mackerhaft oder so. Ich bekomme es besser hin, empfindlich zu bleiben und trotzdem nicht gleich umgeweht zu werden.

Haben Sie es denn je als Last empfunden, Teil einer Theaterdynastie zu sein?

Es war eigentlich nie ein sehr großes Thema. Ich habe mir dann doch schnell meinen eigenen Platz erarbeitet. Was vielleicht am schwierigsten war, war das Scheitern der Intendanz meines Vaters hier in Hamburg am Schauspielhaus.

Wie alt waren Sie da?

13 oder 14 ungefähr. Viel später habe ich dann Schauspieler kennengelernt, die damals involviert waren und habe die ganze Geschichte noch einmal von der anderen Seite gehört, ich kannte ja nur die Version von meinem Vater. Das war dann schon schwierig mit den Vater-Sohn-Loyalitäten und dem gleichzeitigen Gefühl, dass vielleicht auch nicht alles falsch ist, was die andere Seite beschreibt. Ansonsten hatte ich weniger Probleme damit, „der Sohn von …“ zu sein. Wobei: Einige Schauspielschullehrer haben es mir nach Prüfungen gern aufs Brot geschmiert, dass meine Eltern berühmt waren. „Suchen Sie sich einen anderen Beruf“, haben die gesagt.

Sie haben dann ja deutlich das Gegenteil bewiesen.

Das habe ich.

Am Thalia waren Sie zuletzt Ensemblesprecher. Warum?

Ich habe mich schon immer sehr für mich selbst eingesetzt, weil ich immer dachte: Am besten ist direkte Kommunikation. Nicht über drei Ecken, nicht in der Kantine meckern. Ich habe mich auch gern gestritten. In beide Richtungen. Ich bin nicht grundsätzlich aufseiten der Kollegen, ich finde das Verhalten von Schauspielern schon auch manchmal blöd. Aber dann habe ich gemerkt, dass es eben auch Leute gibt, die ihre Stimme nicht so gut erheben können. Und ich habe gemerkt, hey, es lohnt sich, einen verantwortungsvolleren Posten zu übernehmen und auch zu vermitteln. Man kann strukturelle Probleme angehen, Dinge verändern und wirklich in Arbeitsabläufe eingreifen.

Welche strukturellen Probleme gab oder gibt es denn vor allem?

Zum Beispiel die Arbeitszeiten. Dass mit immer weniger Leuten immer mehr produziert wird. Es gibt zu viele Zeiträume, in denen das Maß der Überarbeitung zu groß ist. Das betrifft natürlich nicht nur Schauspieler, sondern auch andere Berufsgruppen, die Regieassistenten zum Beispiel. Es ist übrigens auch nicht so, dass die Theaterleitung da immer allein schuld ist – oft müssen die ja auch einen Mangel verwalten. Bei kleineren Theatern brennt es natürlich noch viel mehr. Man ist schon manchmal verblüfft, wie gering das Bewusstsein für die Arbeitsbedingungen bei manchen Schauspielern ausgeprägt ist. Ich finde, wir können keine Kunst mehr machen, ohne zu hinterfragen, wie wir diese Kunst herstellen. Mich wundert, dass wir diese Fragen so selten stellen. Oder wenn, dann nur auf so einem Kantinenniveau. Und mich freut es, dass mit Jörg Pohl in Basel jetzt ein Schauspieler ins Leitungsteam geht. Endlich mal! Richtig so! Das wird schwer, aber man muss auch mal Verantwortung übernehmen.

Wäre das auch etwas für Sie? Teil einer Theater-Intendanz zu sein?

Mich hat mein Engagement für das Ensemble-Netzwerk schon sehr verändert. Ich habe es schon früher wahrgenommen, wenn Schauspieler ungerecht behandelt werden – und ich komme inzwischen nicht mehr so einfach darüber hinweg. Ich würde die Bühnenarbeit nie missen wollen, ich will eigentlich immer, immer spielen, immer, immer arbeiten – aber es gibt auch immer mehr Momente, in denen ich zum Beispiel nicht mehr einsehe, dass es eine Samstagabendprobe geben muss. Da sind noch widersprüchliche Energien in mir. Zutrauen würde ich mir eine Leitungsfunktion, aber ich weiß nicht, was es mit mir machen würde. Vielleicht wäre es wie bei Christoph Marthaler. Dem haben sie in Zürich irgendwann das Intendantenbüro weggenommen, weil der da eh nie war. Der hat das Theater anders geleitet. Riesig eingekauft und abends ein Fest gemacht und dem ganzen Theater seine Käsesorten erklärt – und da dann aber auch die wichtigen Gespräche geführt. Für den ging das, diese Mischung aus Künstler und Leiter. Das war schon toll.

Vor etwas mehr als einem Jahr hat Joachim Lux angekündigt, dass es am Thalia Theater mehr Mitbestimmung geben solle. Wie viel ist davon umgesetzt?

Es gibt einen Ausschuss dazu, in dem ich allerdings nicht sitze, weil ich das Haus ja verlasse. Es ist wohl kein so einfacher Prozess. Das Gespräch ist noch im Gang. Ich bin auch gespannt, wie es in Zürich laufen wird.

Ist es richtig, dass der Thalia-Marathon-„Faust“ von Nicolas Stemann, in dem Sie die Titelrolle spielen, künftig nicht mehr in Hamburg zu sehen ist, sondern in Zürich?

Ja. Jeder Regisseur wird eine Arbeit mitnehmen und dort vorstellen, die ihm wichtig ist. Für Nicolas Stemann ist das der „Faust“.

Ist das für Sie auch eine Ihrer wichtigsten Arbeiten?

Definitiv. Den „Faust“ habe ich richtig im Körper gespeichert, und der hat mich auch ordentlich was gekostet. Kräfte. Auf dem Festival in Avignon zum Beispiel haben wir den „Faust“-Marathon an sechs Tagen fünfmal gespielt. Fünfmal die zehn Stunden! Wir wollten das ja auch unbedingt – aber es geht eigentlich nicht. Da war ich ganz schön hinüber, da war ich so sehr an den Reserven, dass ich dachte, diese Energie krieg ich nie wieder hoch. Eine andere Gefahr, wenn die Texte so lange in einem wohnen, ist die der schwarzen Löcher. Bei mir ist das jedenfalls so. Ich kann den Text, ich bin total sicher – und plötzlich ist es schwarz. Alles weg. Ich kann an so einer Stelle dann auch nicht denken. Das ist schon wahnsinnig anstrengend … Aber da war und ist natürlich trotzdem immer eine ganz große Lust. Das Glück dieser Konstellation ist einfach aufgegangen. Die Schauspieler, die Musik, Nicolas Stemann – und auch Goethe, das muss man sagen. Der „Faust“, das ist einfach einer dieser Texte, mit denen kann man sich sein ganzes Leben lang auseinandersetzen. Und so lange würde ich es am liebsten auch spielen.