Hamburg. Der chinesische Schriftsteller und Friedenspreisträger Liao Yiwu hielt am Dienstag im Körber Forum die dritte „Rede zum Exil“.

Ein Leben im Exil ist für viele Menschen dieser Welt Alltag. Sie fliehen, bisweilen unter abenteuerlichen, immer wieder auch lebensgefährlichen Umständen, vor Krieg oder Verfolgung, sie müssen eine Heimat verlassen, einen Lebensweg abbrechen, um ein neues Zuhause zu finden. Zum Beispiel in Deutschland. Mit ihrem aktuellen Fokusthema „Neues Leben im Exil“ engagiert sich die Hamburger Körber-Stiftung für diese Menschen, im letzten Herbst mit den stadtweiten „Tagen des Exils“, am Dienstagabend nun mit einer denkwürdigen Rede des chinesischen Schriftstellers und Friedenspreisträgers Liao Yiwu im Körber Forum.

Seit 2011 lebt Liao Yiwu in Deutschland. „Die ständige Angst ist gewichen“, sagt er, „die Angst, aufgrund der sogenannten Einladungen zum Tee bei der chinesischen Polizei das Schreiben unterbrechen zu müssen, oder beim Katz- und Mausspiel um meine versteckten Manuskripte doch noch erwischt zu werden.“ Im Exil habe er zunächst die friedlichste und produktivste Zeit seines Lebens genossen, fast jeden Abend unbelastet am Schreibtisch gesessen und an seinen Büchern gearbeitet. Ein „Luxus“, der in China für viele freischaffende Menschen unvorstellbar sei.

Liao Yiwu ist der dritte Autor, der eine "Rede zum Exil" in Hamburg hielt

Dennoch findet Liao Yiwu auch bittere Worte: „Die Abgeschmacktheit und Grausamkeit der Welt hat keinen Bedarf mehr an Helden, die für die Demokratisierung ihres Vaterlandes ins Gefängnis gehen“, glaubt er, „ganz gleich, ob es sich um eine unwichtige Ameise handelt oder um einen Nobelpreisträger.“ Die Erkenntnis seiner eigenen inneren Freiheit habe er erst im Gefängnis erlangt – wo er gefoltert worden sei und versucht habe, sich das Leben zu nehmen.

Nach Ilja Trojanow und Can Dündar ist Liao Yiwu bereits der dritte Autor, der in Hamburg eine eindrückliche „Rede zum Exil“ hielt.

Liao Yiwus Rede: Für die Freiheit der Anderen

Als ich nach vielen Strapazen im Sommer 2011 in Berlin landete, schmeckte die Luft des Exils, oder besser gesagt die Luft der Freiheit, durchaus süß. Obwohl die acht Jahre, die folgten, nicht immer ein Zuckerschlecken waren, war es die friedlichste und produktivste Zeit meines Lebens. Die ständige Angst ist gewichen, die Angst, aufgrund der sogenannten Einladungen zum Tee bei der chinesischen Polizei das Schreiben unterbrechen zu müssen, oder beim Katz- und Mausspiel um meine versteckten Manuskripte doch noch erwischt zu werden. Im Exil saß ich fast jeden Abend unbelastet an meinem Schreibtisch und arbeitete mit dem Material, das ich aus China mitgebracht hatte, an meinen umfangreichen Büchern. Zur Erholung blickte ich auf das Jadegrün meines Gartens oder spielte Flöte, für mich, meine kleine Tochter und nicht zuletzt für meine seelenverwandten Freunde in Unfreiheit. Die acht Bücher, die bisher in Deutschland erschienen sind, verdanken ihre Existenz diesem lang ersehnten Frieden, einem Luxus, den ich mir in China niemals hätte vorstellen können und der für viele freischaffende Menschen dort noch immer unvorstellbar ist.

Ich habe das immer wieder gesagt: Mein Mut und alles, was ich bin, hat seinen Ursprung im Gefängnis. Hierin unterscheide ich mich von anderen chinesischen Autoren. Im Gefängnis habe ich zur Genüge Erfahrungen mit der Folter gemacht und ich habe zweimal versucht, mir das Leben zu nehmen. Doch es war auch das Gefängnis, in dem ich gelernt habe, im Geheimen zu schreiben, und in dem ich von einem über achtzig Jahre alten Mönch das Flötenspiel gelernt habe. Beim Flötenspiel habe ich verstanden, dass „Freiheit im Inneren entspringt“.

Wer innerlich frei ist, ist der natürliche Feind jedes diktatorischen Regimes, der jeweilige politische Standpunkt ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass man den Schrecken und die Trostlosigkeit des Freiheitsverlustes und des Ausgeliefertseins erfahren hat, erst dann kann man mit allem, was man hat, für die Freiheit der Anderen kämpfen.

Den größten Teil meines Lebens war ich, vom professionellen Schreiben einmal abgesehen, ein Geschlagener. So wurde Li Bifeng, ein Freund aus meiner dreimaligen Zeit im Gefängnis, als Warnung an alle anderen kurz nach meiner Flucht über die chinesisch-vietnamesische Grenze im Juli 2011 unter dem Verdacht der Beihilfe verhaftet und wegen eines fingierten Wirtschaftsvergehens zu zehn Jahren Haft verurteilt. Ich musste mich natürlich für ihn einsetzen, doch seither sind schon acht Jahre vergangen, er ist immer noch im Gefängnis und seine Frau hat ihn verlassen. Sein einziger Trost ist, dass ich ihn nicht vergessen habe. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich in einer Pariser Buchhandlung aus meinem Buch „Die Kugel und das Opium – Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens“ sein unsterbliches Gedicht „Winterschlaf“ gelesen:

Der Winter kommt früh
unsere Bäume verdorren
kein Nährstoff mehr, Göttern zu weih'n
so friert uns die Zeit über's Haar
grauen allmählichen Firn
rissig die Haut wie das Schildpatt der Felder
der Winter ist da
wir lieben den Schlaf
das Herz ist müd
das Blut ist müd
wir schlafen unter dem Schnee
in so einem Land
bleibt nur der Schlaf

Ich glaube felsenfest daran, dass dieses Gedicht sich für alle Zeiten als Zeugnis in die chinesische Literaturgeschichte nach dem Massaker vom 4. Juni 1989 einschreiben wird. Doch als der Exilant, der ich bin, hat meine Beharrlichkeit ihm nicht aus der Haft geholfen. Später hat eine noch fatalere Katastrophe ganz China unter sich begraben wie der Schnee aus Li Bifengs Gedicht. Noch mehr Freunde sind inhaftiert worden, allein aus meiner alten Heimat Sichuan waren es unter anderen Liu Xianbin, Huang Qi, Chen Wei und Chen Bing. Auch mein enger Freund Liu Xiaobo, der viermal im Gefängnis war, ist am 13. Juli 2017 in seinem Gefangenenkäfig ermordet worden. Wir haben alles in unserer Macht Stehende zu seiner Rettung getan, doch ohne Erfolg. Auch wenn Liu Xiaobos Witwe später nach Deutschland entlassen wurde, war das doch ungeheuer schmerzhaft erkauft – im Übrigen wird das alles sehr schnell in Vergessenheit geraten: China ist immer noch der größte kapitalistische Markt der Welt, und der Handelskrieg Amerikas gegen China hat mit seinem unaufhörlichen Auf und Ab längst begonnen, die Erinnerung an Li Bifeng und Liu Xiaobo und all die anderen wegzuwischen – die Abgeschmacktheit und Grausamkeit der Welt hat keinen Bedarf mehr an Helden, die für die Demokratisierung ihres Vaterlandes ins Gefängnis gehen, ganz gleich, ob es sich um eine unwichtige Ameise handelt oder um einen Nobelpreisträger – ich habe das verstanden, habe verstanden, dass ich, obwohl ich eigentlich schon genug darüber geschrieben habe, weiter schreiben muss – so wie vor über zweitausend Jahren Platon die philosophische Debatte, die dem Tod des Sokrates im Gefängnis voranging, festgehalten hat. Ohne die Schriften Platons wäre auch Sokrates von der Zeit weggewischt worden, auch sein Tod wäre ein langsam in der Ferne verblassendes Rätsel und würde uns nicht heute noch aufwühlen.

Es stimmt, ich habe „Für ein Lied und hundert Lieder – Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“ und „Die Kugel und das Opium“ geschrieben, beide Bücher bilden eine Einheit und erinnern an die Opfer des großen Massakers auf dem Tiananmen vor dreißig Jahren, viele verloren das Leben, viele hat das Gefängnis zerstört – und selbst wenn sie entlassen worden sind, wissen sie in dem größeren, mauerlosen Gefängnis, das China heute ist, am Morgen nicht, ob sie den Abend erleben werden – besser das Leben verlieren, als so zu leben. Als Liu Xiaobo am 13. Januar 2000 zum dritten Mal aus dem Gefängnis entlassen wurde, hat er mir nach der Lektüre von „Für ein Lied und hundert Lieder – Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“ in einem Brief geschrieben: „Ich habe immer gewusst, dass nach dem 4. Juni viele zu viel schwereren Strafen verurteilt worden sind als ich als einer der Hauptakteure und das unter Haftbedingungen, die sich normale Menschen überhaupt nicht vorstellen können. Aber bevor ich Dein Buch gelesen hatte, war das nicht mehr als ein Gefühl. Erst durch Dein Buch fühlte ich die Herzen der Opfer vom 4. Juni schlagen. Meine Scham ist nicht in Worte zu fassen, ich kann und werde deshalb die zweite Hälfte meines Lebens nur noch für diese verlorenen Seelen, für diese namenlosen Opfer leben. Alles kann vergehen, aber das Blut und die Tränen dieser Unschuldigen lasten für immer auf meinem Herzen. Schwer, kalt und kantig wie Steine ...“

„Für ein Lied und hundert Lieder – Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“ berichtet über die vier Jahre, die ich im Gefängnis war, die ständig neuen, auch sexuellen Misshandlungen, die letzten Augenblicke der zum Tode Verurteilten, ihre Verzweiflung, ihre Perversitäten. Beim Überlebenskampf in den engen Raubtierkäfigen hatte ich längst vergessen, dass ich ein politischer Gefangener war. Am Vorabend des Zusammenbruchs der früheren Sowjetunion wurde, wie ich mich erinnere, Gorbatschow verhaftet und die „Bildung eines Staatskomitees für den Ausnahmezustand“ verkündet; und als stünde der Feind direkt vor der Tür, hat auch das Untersuchungsgefängnis von Chongqing die Wachen verdoppelt, vom Korridor im ersten Stock und den Eisenzäunen des Erdgeschosses waren zwei schwere Maschinengewehre auf uns gerichtet. Die Delinquenten wurden nacheinander zu Gesprächen herausgerufen, durften jedoch nichts anderes sagen als: „Sie haben die Sowjetunion und die Partei gerettet“. Ein Gefangener wusste nicht, was die Stunde geschlagen hatte, und sagte zu den Vorgängen in der Sowjetunion: „Das ist eine Rebellion!“ Man warf ihn auf der Stelle zu Boden und steckte ihm einen Elektroknüppel in den Anus.

Vor fünfzehn Jahren habe ich begonnen, Material für „Die Kugel und das Opium“ zu sammeln, ohne einen Gedanken daran, das je veröffentlichen zu können. Zahllose Straßenkämpfer wie Wang Weilin, der am 6. Juni vor den Panzern stand, sind erschossen oder von Truppen des Kriegsrechts totgeschlagen worden, wer nicht sein Leben verlor, verschwand spurlos, wurde zum Tode verurteilt, bekam lebenslänglich, zwanzig Jahre, zehn und mehr Jahre. Junge Burschen sind da hinein, mussten jede Art von Folter über sich ergehen lassen und produzierten irgendwelche Gummihandschuhe, Vaginaldilatoren, Pappsärge und dergleichen, und als sie impotent und demoralisiert herauskamen, konnten sie mit dem Turbokapitalismus nicht mehr Schritt halten.

Dann, im Alter von dreiundfünfzig Jahren, habe ich nach dem Yijing das Orakel befragt und erhielt als Antwort das Zeichen „Wiederkehr“. Das ist ein Hinweis auf den Sieben-Tage-Zyklus von Himmel und Erde. Also steckte ich meine beiden Manuskripte ein, überquerte mit Hilfe von Bestechung und mit der Unterstützung der Syndikate die chinesisch-vietnamesische Grenze und ging ins Exil. Damals trug ich vier handgroße Nokia-Handys bei mir, ein offizielles, damit die Polizei etwas zu verfolgen hatte, zwei private, mit denen ich einseitig mit den Syndikaten und einem ungenannten deutschen Freund Verbindung hielt, und dann noch eins in Reserve. Immer wieder mussten die Akkus geladen werden. Diese simple Verschleierungstaktik war damals sehr effektiv, während es mein wie ein Schatz gehütetes Nokia heute längst nicht mehr gibt und man für Handykarten, Schnittwerkzeug und entflammbare und explosive Stoffe den Ausweis scannen muss.

„Das Internet wird die Diktaturen zerstören und der Markt wird Demokratien gebären“ – diese Prophezeiung eines bekannten amerikanischen Politikers, die eine Weile in aller Munde war, entsprach ganz der Ansicht des damaligen amerikanischen Präsidenten Clinton. Und so durfte China mit tatkräftiger Unterstützung der USA der WTO beitreten und kam in den Genuss der Meistbegünstigungsklausel – gut zwanzig Jahre später allerdings hat das Internet die Diktatur nicht zerstört, im Gegenteil, die Diktatur nutzt die Technik des westlichen Internets, um China flächendeckend zu überwachen: wo man sich auch befindet, man muss nur ein Dissident sein und kann und wird abgehört und verfolgt, jede Bankverbindung und jede Wortmeldung im Netz wird aufgezeichnet und kann später als Beweis für staatsgefährdende Umtriebe verwandt werden.

Im Restaurant, im Bahnhof, am Flughafen – dein Gesicht kann von der Polizei auf dem Handy oder dem Computer automatisch identifiziert werden: Die im Westen erfundene und unentwegt weitergetriebene digitale Vernetzung und die Vermarktung haben so den autoritären Systemen wirksame Hilfestellung geleistet. Und die westlichen Demokratien werden davon herausgefordert – so ist China im Besitz einer Firewall und einer Anti-Firewall, das Browsen von ausländischen Homepages ist ein „kriminelles Vergehen“, die Polizei hat das Recht, jemanden dafür zu verhaften; westliche Länder hingegen haben keine Firewall, fast alle Chinesen im Ausland und nicht wenige an China interessierte Ausländer können nach Belieben WeChat, Weibo und die Software von Huawei benutzen, wobei man sie ohne ihr Wissen überwacht und verfolgt. Wenn jemand irgendetwas Drastisches, Verdächtiges, Satirisches oder irgendwie Aufrührerisches äußert, ergeht von den Administratoren von WeChat eine Ermahnung über eine mögliche „Löschung der Account-Nummer“, oder sie wird ohne vorherige Warnung direkt gelöscht, für eine Weile ist man dann „spurlos verschwunden“ und die Familie und die Freunde im Land werden womöglich Ärger bekommen.

Der jüngste Fall ist der der „Early Rain Covenant Church“. Durch die ständige Kontrolle dieses speziellen WeChat-Freundeskreises am 9. Dezember 2018 gelang es der Polizei, an einem einzigen Abend über hundert Christen dieser Hauskirche festzunehmen, eine ganze Reihe von Bankkonten wurde eingefroren, Augenzeugenberichte jedoch wurden beseitigt. Im Mittelpunkt des Falles steht ein Pastor namens Wang Yi, ein langjähriger Dichterfreund und nicht weniger begabt als Li Bifeng, den aber, als ich einen Aufruf für ihn veröffentlichte, im Westen kaum jemand kannte. Als ich die Arbeit vom Beginn meines Exils vor acht Jahren wieder aufnahm und einen der „Aufwiegelung zum Umsturz der Staatsmacht“ beschuldigten Unbekannten in das Licht der Öffentlichkeit zog, war mir klar, dass er bereits seit sieben Monaten spurlos verschwunden war und eine Haft von über zehn Jahren zu gewärtigen hatte.

Ich möchte hier und heute ein Gedicht von Wang Yi lesen – hier und heute für Menschen wie ihn zu kämpfen, ist ein wichtiger Teil meines Lebens im Exil. Es ist sehr gut möglich, dass das keinen Erfolg haben wird, aber würde ich schweigen, bliebe von diesem leidenschaftlichen Engagement praktisch nichts, nicht einmal sein Scheitern – doch gerade hiervon legt ein berühmtes Buch Zeugnis ab: Ein reales „1984“ kann entmutigen, doch das Buch „1984“ hat diese Entmutigung gemildert:

In dieser Zeit musst du ein verdächtiges Gedicht schreiben.
Eine Zeile Chinesisch kann ein Regime stürzen.
Ein Sonett kann vierzehn Regime stürzen.

Auf geheimen Maskenbällen erkennt dich,
wer dich kennt. Wer dich nicht kennt, erkennt dich noch weniger.

In dieser Zeit musst du ein Gedicht schreiben, das die Anführer fürchten.
Eine Metapher ist ein nuklearer Sprengkopf.
Die Kurtisane weiß nicht , wie absurd, was da steht, weint um das Land.

Auch am schlimmsten Tag brechen riesige Wellen.
Der Tod wird vom Wasser in Gewahrsam genommen.

Wer ist nicht verwandt mit einem politischen Häftling? Nicht Witwe eines Gespensts?
In dieser Zeit ist die Lesung eines Gedichtes verdächtig.
Liest du es nicht, wirst du von jenen gelesen.

In dieser Zeit führen die Blinden murmelnde Selbstgespräche.
Heilig, heilig, heilig. Der Blinde fragt den Tauben: Hast du es gesehen?

In dieser Zeit musst du ein verdächtiges Gedicht schreiben.
Als Verbeugung vor den Verdächtigen.

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Übersetzung: Prof. Dr. Hans Peter Hoffmann. Der vorliegende Text beruht auf der „Hamburger Rede zum Exil“, die Liao Yiwu am 28.05.2019 in der Körber-Stiftung gehalten hat.