Hamburg. Sylvain Cambreling, Chefdirigent der Symphoniker Hamburg, hat im Abendblatt seine Gedanken zum Brand der Kathedrale aufgeschrieben.
Nach dem Aufwachen erfuhr ich es: „Notre-Dame hat gebrannt“. Sie hat ihre Turmspitze und ihr Dach verloren. Man könnte auch sagen, ihren Kopf und ihre Krone … In einem Architekturbuch suchte ich nach einem Foto. Es ist schwer zu glauben. Diese Leere … dieses Loch! ...
Ich denke niemals an Gott, wenn ich eine Kathedrale betrete. Ich betrete sie, um den alten freundlichen Griff der Kälte auf meiner Schulter zu spüren. Ich versuche jedes Mal, die Toten zu sehen, die das alles errichtet haben und die heute noch nicht einmal eine Schneeflocke emporheben könnten. Ich sehe nur Kerzen, die sich beratend versammeln. Ich gehe durch das Kirchenschiff wie durch den Schädel eines Neugeborenen, ruhig und tastend. Barockmusiker probieren das Konzert des Abends. Der abwesende Christus und die Musiker improvisieren eine Ode an die qualvolle Agonie von jeder Sekunde, die vergeht.
Jetzt die Stille! (Dieses Geschenk der Engel, das wir nicht mehr zu öffnen suchen.) Wie gerne würde ich heute den brillanten Klang der Orgel der „Notre-Dame“ hören. Diese Welt bringt die Pracht um, die Gelassenheit, und weiß nicht mehr, wo sie sie begraben hat.
Während wir auf den kommenden Wiederaufbau warten, müssen wir die Erinnerungen neu erschaffen. Eine falsche Ewigkeit erschaffen. Der Verlust lässt uns die Ewigkeit verinnerlichen, und die Ewigkeit ist das, was nicht vorbeigeht, was uns in der Kehle bleibt.
Die Turmspitze der Kathedrale steckt mir wie eine Fischgräte in der Kehle. Ich werfe das Fangnetz meiner Blicke in den Wassern der zerstörten Welt aus. Dann hole ich es ein und versuche die goldenen Fische zu retten.
Und das Leben nähert sich. Es lauert auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen und einem jeden zuzurufen: Singe, jetzt. Gehe hin! Schreibe! Singe!