Hamburg. Sozioliteraten wie Édouard Louis und Annie Ernaux beschreiben die Gesellschaft – und werden in Deutschland besonders gern gelesen.

Einmal tanzt der Sohn, es sind Gäste da, im Wohnzimmer, und er singt Playback. Dem Vater ist es peinlich. Er geht auf der Terrasse eine rauchen. Der Erzähler berichtet in nüchternen Worten davon, in denen der Schmerz leise widerhallt. „Eines Abends sagtest du in der Dorfkneipe vor allen Leuten, du hättest lieber einen anderen Sohn gehabt als mich. Wochenlang wollte ich am liebsten sterben“, heißt es später. Da ist die Erfahrung, die seinem Leben aufgeprägt ist, deutlich zu spüren.

Édouard Louis: „Wer hat meinen Vater umgebracht“
Édouard Louis: „Wer hat meinen Vater umgebracht“ © S. FISCHER Verlag GmbH

Der hier schreibt, heißt Édouard Louis. Er hat von sich und seinem Vater schon einmal erzählt. 2014, als er mit 22 Jahren und seinem Roman „Das Ende von Eddy“ schlagartig berühmt wurde. Es ging um die Provinz in Nordfrankreich, es ging um Armut und Homosexualität, um die Flucht aus der eigenen Herkunft. Mit einem Buch wurde Louis zum literarischen Wunderkind. Und besonders in Deutschland zur intellektuellen Lichtgestalt hochgejazzt. Das Interesse für französische Literatur wurde jedenfalls neu geweckt. Wenn nun mit „Wer hat meinen Vater umgebracht“ (Fischer, 90 Seiten, 16 Euro) das inzwischen dritte Werk von Louis auch auf Deutsch erscheint, ist die Rezeption der französischen Sozioliteraten weiter im Gange. „Das Ende von Eddy“ war auch ein Angriff auf den Vater. „Wer hat meinen Vater umgebracht“ ist dagegen eine nachträgliche Liebeserklärung. Wieder wird Biografisches mit Soziologie verquickt. Mal schlägt das Pendel dabei, wie bei Louis, eher in Richtung Roman aus, mal, wie bei Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) eher in Richtung Analyse aus. Die Autoren sind befreundet und werden in Deutschland, so scheint es, derzeit noch mehr gelesen als in ihrem Heimatland.

Annie Ernaux wird gerade erst entdeckt

Gerade erst entdeckt in Deutschland wird dagegen die Pionierin jener an den gesellschaftlichen Vorhältnissen interessierten Literatur. Annie Ernaux (geboren 1940 in Lillebonne in der Normandie) stammt wie Édouard und Eribon aus der Arbeiterschicht, was im von den unter sich bleibenden Eliten gelenkten Frankreich noch weitaus stärker ein Urteil ist als etwa hierzulande. Der Suhrkamp-Verlag veröffentlicht die Bücher von Ernaux, auf die sich Louis und Eribon berufen, derzeit erstmals oder in Neuübersetzung. Gerade erschienen ist „Der Platz“ (95 Seiten, 18 Euro), eine Hommage an das kleinbürgerliche Milieu, in dem sich die Eltern Annie Ernaux’ als Ladenbesitzer eingerichtet hatten. Ernaux erzählt in diesem 1983 im Original erschienenen Buch, den Tod des Vaters Ende der Sechzigerjahre als Anlass und Ausgangspunkt nehmend, spröde und zurückgenommen vom Schicksal des Vaters, der zu den kleinen Leuten zählte, aber nicht zu den ganz kleinen. Dafür nahm er in Kauf, neben dem Laden noch einen Zweitjob zu haben: Er arbeitete in der Raffinerie, aber er zählte sich dennoch nicht zu den Arbeitern. Er hatte stets Abstiegsängste. „Er wollte seinen Platz behalten“, schreibt Ernaux – als Ladenbesitzer etwas besseres sein.

Die Abstiegsängste der Kleinbürger

„Der Platz“ ist ein dünnes Buch, aber randvoll mit einem Leben, das eng war, aber nicht unglücklich – und einem anderen Leben, das Emanzipation suchte und fand, das mehr wollte. Die Distanz zwischen Vater und Tochter war die zwischen Bildung und der Einfachheit der Verhältnisse, und sie war beiden stets bewusst. Ernaux legt mit „Der Platz“ (und mit praktisch jedem anderen ihrer autobiografischen Bücher) Zeugnis ab vom eigenen Aufstieg, der mit einem Verrat begann.

Annie Ernaux: „Der Platz“
Annie Ernaux: „Der Platz“ © Suhrkamp Verlag | Suhrkamp Verlag

Doch ein wenig erstaunlich, für das Subjekt der nivellierten Mittelschicht zumindest, erscheint die Totalität, mit der ein Strich gezogen werden musste – um wie Ernaux dann erst nach dem Tod des Vaters „das Erbe ans Licht“ zu holen, „das ich an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste“. Mit dem Vater begraben wurde jenes Erbe, „vielleicht sein größter Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte“.

Louis, der Gegner Macrons

Auch, was die reduzierte Form und die Dichte der Beschreibung angeht, ist nun Édouard Louis’ Vaterbuch eine Aktualisierung von „Der Platz“. Aber es ist doch ein emphatischeres Buch, das der Literatur eine andere Funktion als die der bloßen Beschreibung zuweist. Louis, der 2018 Samuel-Fischer-Gastprofessor an der FU Berlin war, verbindet das Porträt des unveränderlich deklassierten, ungebildeten, rollenfixierten Vaters, den er immer direkt anspricht, mit der eingangs erwähnten eigenen Lebenslaufprägung („Die Männlichkeit hat dich zur Armut verdammt, zum Geldmangel. Hass auf Homosexualität = Armut“) und der Anklage an die Politik. Am Ende seiner Annäherung an das prekäre Leben des Vaters, das mit einer Versöhnung endet, leitet Louis seine Wut in eine Attacke auf „die da oben“ um, was ihn, den erklärten Macron-Gegner, zum Aufsteiger macht, der mit den Underdogs fühlt und stellvertretend für sie auf die Barrikaden gehen will. Louis’ Ansage – „Literatur muss kämpfen, für all jene, die selbst nicht kämpfen können“ – ist sympathisch, aber die Einheit seines kleinen Werks sprengt sie dennoch.

Der Vater, nach einem Arbeitsunfall und anschließender Existenz als Straßenfeger schwerkrank und finanziell ruiniert, hat vom sozial knauserigen Staat (Louis erinnert bitter an Macrons Kritik an den „Faulpelzen“) nichts zu erwarten. Deshalb ist Louis’ Angriff auch verständlich, er gilt pathetisch, aber nicht falsch den Herrschenden, für die Politik „weitgehend eine ästhetische Frage ist“. „Für uns“, schreibt er weiter und meint die Welt der kleinen Leute, der er entstammt, „ist sie eine Frage von Leben und Tod“.