Hamburg. Regisseur Kay Voges bringt mit „Stadt der Blinden“ einen Live-Film auf die Bühne. Könnte spektakulär werden. Der Mann ist begehrt.
Erster Probentag in Originalkulisse auf der großen Schauspielhaus-Bühne in Hamburg. Für den Regisseur Kay Voges ist das eine besondere Situation, zumal wenn die Inszenierung eine solch logistische Herausforderung bedeutet wie hier. Der Intendant des Schauspiels Dortmund gehört zu den derzeit spannendsten Theatermachern im deutschsprachigen Raum, 2017 war er beim Theatertreffen, in diesem Jahr gehörte eine seiner Produktionen dort immerhin zur engeren Auswahl.
Nun hat ihn das Schauspielhaus eingeladen, den Roman „Stadt der Blinden“ des Literaturnobelpreisträgers José Saramago auf die Bühne zu bringen. Die Aufbauten sind aufwendig, die Besetzung groß, die Inszenierung ist Voges’ Hamburg-Debüt – es könnte spektakulär werden.
Vor sechs Jahren haben Sie in Dortmund das „Dogma 20_13“ verkündet, ein zwar ironisch formuliertes, aber doch ernst gemeintes Manifest für neue Theaterformen. Gilt das noch? Ist Ihre erste Schauspielhaus-Produktion eine Dogma-Inszenierung?
Voges: Sie schließt da an. Francis Ford Coppola hat schon 2012 gesagt: Die Zukunft des Kinos ist, dass es live stattfinden wird – das hat nur in Hollywood noch keiner begriffen. Da war für uns ein so kühner Satz, das wollten wir versuchen. Das Prinzip ist immer ähnlich: Der Theaterzuschauer bekommt einen echten Live-Film, mit Schnitten, erzählerisch – und gleichzeitig kann er die Zweidimensionalität des Films ergänzen durch die Dreidimensionalität des Theaters.
Da sind ja nach wie vor Menschen live auf der Bühne, man bekommt den Herstellungsprozess direkt mit. Hier am Schauspielhaus haben wir neben 23 Schauspielenden zwei Kameramänner und vier Kameras im Einsatz. Es gibt Leute, die finden meine Inszenierungen überfordernd, weil so viel parallel stattfindet. Ich finde, das kann auch eine Meditation über die Gleichzeitigkeit sein.
Was wiederum die Gegenwart spiegelt: Überall lauert Ablenkung. Es ist ein permanentes Multitasken.
Voges: Genau. Wir erzählen nicht das psychologische Seelendrama einer Figur, das will auch das Buch von José Saramago gar nicht. Saramago beschreibt, wie eine ganze Gesellschaft immer tiefer in die Katastrophe hinabrutscht. Es ist eigentlich eine Katastrophen-Gesellschaftsanalyse, eine Dystopie, die wir auf die Bühne bringen. Während da fast schon in Spielfilmqualität ein Film vor den Augen des Publikums hergestellt und gezeigt wird, sieht man zur selben Zeit ganz andere Dinge, die sich zum gleichen Thema, zur gleichen Situation abspielen. Man kann auf mehreren Ebenen schauen, ohne seinen Kopf und sein Herz an einen Regisseur und seinen Cutter abzugeben, wie es im Kino wäre. Das ist aufregend für die Zuschauer. Man kann selbst aussuchen, wo man hinschaut. Oder mehrmals kommen und was ganz anderes sehen.
Die Gefahr dabei kann sein, dass die spektakuläre Art der Inszenierung den Inhalt überlagert. Wie umgehen Sie das?
Voges: Ich versuche immer, dass Inhalt und Methode miteinander zu tun haben. Es geht in „Die Stadt der Blinden“ sehr um das Sehen, es geht um das Erblinden, um Wahrnehmung. Diese Gedanken aus dem Buch führen wir weiter. Der Abend wird nicht allein über Kameras funktionieren, es wird einen Moment geben, so viel kann ich ja schon verraten, wo die Kameras erloschen sind.
Haben Sie sich an dem Roman oder auch an der Romanverfilmung orientiert?
Voges: Die Fassung ist aus dem Roman heraus entstanden, die habe ich gemeinsam mit den Dortmunder Dramaturgen Matthias Seier und Bastian Lomsché erarbeitet. Wir sind, was die Sprache und die Erzählung der Geschichte angeht, sehr konsequent am Buch geblieben.
Das Buch hat 800 Seiten - wie lang wird der Abend?
Voges: Rund zweieinhalb Stunden. Und natürlich kann man einen 800-Seiten-Roman nicht in zweieinhalb Stunden komplett auf die Bühne bringen. Muss man aber auch nicht. Ich glaube, dass wir eine sehr verdichtete Nacherzählung entwickelt haben, mit eigenen Bilder, eigenen Albträume, eigenen Freiheiten. In den Grundzügen ist es ungewöhnlich werktreu, was ich da gerade mache.
Die moralische Aussage ist sehr deutlich: Die Gesellschaft erblindet, niemand nimmt den anderen mehr wahr…
Voges: Ja, das Buch erinnert in seiner Grausamkeit an Dantes „Inferno“, es wird immer schlimmer und schlimmer. Es ist ein böses Märchen, eine Parabel über den Zusammenbruch von Kultur. Was heißt eigentlich „Menschlichkeit“, was unterscheidet uns vom Tier, wie geht Gesellschaft? Das sind für mich die Grundfragen. Mich erinnert das an den Moment, in dem Christus am Kreuz hängt und ruft „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Hier ist es eine ganze Gesellschaft, die diese Verlassenheit spürt, und eine einzelne Frau - die einzige, die sehen kann - verzweifelt daran. Sie zieht zugleich ihre Lebensaufgabe daraus, wie eine Heilige oder wie ein Narr. Kann es da eine Erlösung geben? Und da sind wir auch schon bei Richard Wagner: Wer erlöst den Erlöser? Sandra Gerling wird diese Frau spielen, sie ist neu im Ensemble und sie macht das wirklich sehr, sehr toll.
Sie gelten als Theatererneuerer, als Regisseur für provokative Theaterexperimente - spüren Sie inzwischen Druck, etwas abliefern zu müssen, das am liebsten einen kleinen Skandal auslöst oder wenigstens zum Theaterfestival eingeladen wird?
Voges: Ich bin der erste Zuschauer jeder meiner Inszenierungen. Das, was ich sehe, werden die anderen Zuschauer nachher auch sehen. Wenn es mich berührt, wenn es mich mitreißt und nicht langweilt, dann geht das vielleicht vielen anderen auch so.
Sie sind der Publikumsgeschmack?
Voges: (lacht) Ein Teil davon, ja! Ich kann ja nicht das Publikum sein. Es gibt Leute, die mögen, was ich mache und dann gibt es welche, die hassen, was ich mache, oder die sind schockiert davon. Aber das sind ja alles Menschen der Gegenwart im Zuschauerraum. Viele lesen ihre Zeitung online, schauen sich die „Tagesthemen“ in der Mediathek an oder gucken Netflix. Diese neuen Sehgewohnheiten betreffen nicht nur die Jugend. Da eine Erzählweise zu finden, die das Theater nicht aufgibt - das haben wir in Dortmund versucht und das versuche ich hier auch.
An diesem Abend am Schauspielhaus wird man wirklich einiges erleben. Es gibt eine wahnsinnige Bühne von Pia Maria Mackert - sowas sieht man selbst in diesem großartigen Schauspielhaus nicht so oft. Was die Werkstätten hier geleistet haben, das ist schon außergewöhnlich. Der Musiker Paul Wallfisch aus New York hat dazu einen Soundtrack kreiert, der wirklich besonders ist. Ich glaube, es wird ein Fest für die Sinne. Und hie und da wird es auch ein bisschen weh tun. Wenn es um den Untergang der Zivilisation geht, dann kann man das nicht mit rosa Plüsch hinbekommen. Das muss drastisch sein. Ich bin gespannt…
…gespannt, ob die Hamburger das aushalten…?
Voges: Erstmal bin ich gespannt, ob wir das hinkriegen! Wer das Buch von José Saramago liest, der bekommt da so viele menschliche Abgründe und Perversitäten vorgeführt. Erpressung, Gewalt, Vergewaltigung, Mord, da ist wirklich die ganze Palette des Verlustes von Menschlichkeit drin. Da eine Übersetzung für die verschiedenen Stufen des Grauens zu finden, das ist die Herausforderung.
Wie oft kann man es sich als Regie führender Intendant leisten, anderswo zu inszenieren, wie jetzt Sie hier in Hamburg?
Voges: Seit meinem dritten Jahr in Dortmund gehe ich einmal im Jahr außerhalb gastieren. Das ist wie eine Frischzellenkur, um nicht betriebsblind zu werden. Ich lerne andere Schauspieler, andere Strukturen kennen. Und wenn ein Intendant als Regisseur in ein anderes Haus hineinkommt, dann ist er natürlich gleichzeitig auch ein bisschen ein Spion.
Ihr Vertrag in Dortmund geht bis 2020. Was kommt danach?
Voges: In Berlin und in Köln habe ich schon gesagt: Meine Telefonnummer haben Sie. Aber ich bin auch sehr entspannt, ich werde dann zehn außergewöhnlich erfolgreiche Jahre in diesem kleinen Dortmund gemacht haben, ich befinde mich außerdem mitten in der Gründung der Akademie für Digitalität und Theater, ich habe Regie-Arbeiten an verschiedenen Theatern vereinbart. Aber wer weiß, vielleicht meldet sich Berlin oder Köln oder München oder Zürich…
… oder Hamburg, irgendwann…
Voges: Wenn ich Karin Beier wäre, dann würde ich dieses Haus nicht mehr verlassen. Es ist wirklich ein Geschenk hier arbeiten zu dürfen. So eine wunderschöne Bühne! Das Schauspielhaus ist wirklich eine der schönsten Bühnen Deutschlands. Wenn nicht sogar die schönste! Hier braucht man die ganz großen Bilder. Das kommt mir sehr entgegen. Wenn man ein Katastrophentheaterstück macht, kann die Bühne gar nicht groß genug sein.