Hamburg. Emiliano Ramniceanu ist der humanitären Katastrophe in seiner Heimat entkommen. Jetzt tritt er in der Elbphilharmonie auf.
Die Wände im übervollen Kaistudio der Elbphilharmonie werfen Melodiefetzen zurück, vermengen sie mit Trompetenfanfaren und vereinzelten Paukenwirbeln. Wie das eben so klingt, wenn ein Orchester sich anschickt zu proben. In einer Ecke des Saals sitzt ein schmaler junger Mann, ganz in Schwarz, die Locken kringeln sich streng am Kopf entlang. Sein Gesicht verrät keine Regung. Auf ein Zeichen des Dirigenten setzt er sich an den Flügel und faltet die langen Beine zusammen mit einer Ruhe, als wäre es sein täglich Brot, ein Solokonzert zu spielen.
Prokofjews erstes Klavierkonzert hat es in sich. Das Elbphilharmonie Publikumsorchester hat das Werk für seinen Auftritt am 26. Januar auf das Programm gesetzt. Emiliano Ramniceanu aber hat selbst die paar Zuhörer der Generalprobe schon in den allerersten Takten am Haken. Mit seiner geistreich geschärften Artikulation, seinem farbenreichen Klang, seinem feinen Zeitgespür erzählt er Geschichten, als wäre ihm das Werk seit Kindertagen vertraut, scheinbar unbekümmert um die spieltechnischen Herausforderungen.
Nach dem Durchlauf und nachdem der Dirigent Michael Petermann einige Korrekturen gemacht hat, erhebt Ramniceanu sich von seinem Klavierhocker und nimmt seine Noten an sich. Wie ein Schüler nach der letzten Unterrichtsstunde seine Unterlagen einsammelt. „Ich war sehr nervös“, sagt er und lächelt höflich, und ein langer, tiefer Atemzug beglaubigt, was er sagt. Die Generalprobe war ein Meilenstein, jetzt gilt es, bis zum Konzert in Form und zugleich gelassen zu bleiben.
Ungewöhnlicher Werdegang
Emiliano hat sich das Stück in wenigen Wochen „draufgeschafft“, wie Musiker das nennen, und sich den Verantwortlichen von Elbphilharmonie und Hamburger Konservatorium – das Publikumsorchester ist eine Kooperation – als Solist für ein Konzert im Großen Saal empfohlen. Der Auftritt wird der Höhepunkt eines ungewöhnlichen Werdegangs. Die Zeitläufte haben den jungen Pianisten gleichsam an den Elbstrand gespült. Wäre er 1990 nicht in Caracas geboren, sondern, sagen wir, im Ruhrgebiet, hätte er seine pianistische Begabung in aller Ruhe entfalten können. Schon als 16-Jähriger bekam er ein Stipendium für einen Studienaufenthalt in Michigan/USA, er hat vier Jahre in San Francisco studiert, zahlreiche Preise gewonnen und sogar Konzerte in Europa gegeben. So liest sich der Beginn einer vielversprechenden Karriere.
Doch dann kam ihm die Wirtschaftskrise in Venezuela in die Quere. 60.000 Dollar betrugen die Gebühren für das Aufbaustudium an der Eastman School of Music of the University of Rochester im Staat New York. Emiliano hatte ein Teilstipendium, aber auch die verbleibenden 15.000 Dollar konnte die Familie nicht aufbringen. „Meine Großmutter hat Alzheimer und brauchte Pflege“, sagt er schlicht. Emiliano ging nach Venezuela zurück und gab Klavierunterricht, statt alle Konzentration auf sein eigenes Konzertexamen zu verwenden.
Zurückzugehen wäre Wahnsinn, sagt er
Und kam irgendwann auf die Idee, sich in Deutschland zu bewerben, wo die Musikhochschulen nur einen Bruchteil an Gebühren nehmen. 2016 ging eine E-Mail mit Demo-Datei bei Michael Petermann ein, der nicht nur das Elbphilharmonie Publikumsorchester leitet, sondern auch die Akademie des Konservatoriums. „Uns war gleich klar, wir müssen helfen“, erinnert sich Petermann. Emiliano kam zunächst für das Internationale Studienjahr und wurde dann für ein Aufbaustudium angenommen. Und zwar nicht aus Mitleid. „Er hat uns von Anfang an musikantisch gepackt“, schildert Petermann die Aufnahmeprüfung. „Das war keine Prüfung, was er gespielt hat, das war ein Konzert.“
Emiliano wiederum schwärmt vom brillanten und zugleich poetischen Spiel seiner Professorin Christiane Behn. „Sie bringt beim Unterrichten Interpretationsfragen und Spieltechnisches zusammen. Mittlerweile kann ich das auch auf Dinge übertragen, die mir meine Lehrer in Amerika mitgegeben haben.“
Private Förderer helfen mit, ihm das Studium zu finanzieren. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Konzerten und Unterrichten. Dank der noch jungen Stiftung Flügel-Fundus kann er in den Räumen der Klangmanufaktur auf einem Steinway-Flügel üben. Dieses Jahr wird er am Konservatorium seine Künstlerische Reifeprüfung ablegen, das Diplom in Musikerziehung steht noch aus.
Wer kann, verlässt das Land
Und dann? Wie es in Venezuela weitergeht, nachdem sich Oppositionsführer Juan Guaidó im Mittwoch in Caracas zum Übergangspräsidenten erklärt hat, ist völlig unklar. Jetzt zurückzugehen wäre Wahnsinn, auch wirtschaftlich. „Meine Mutter verdient als Musiklehrerin umgerechnet drei Euro im Monat“, erzählt Emiliano. In der Landeswährung Bolívar lässt sich der Betrag wegen der grassierenden Hyperinflation kaum ausdrücken. Natürlich ist das Preisgefüge in Venezuela ein anderes. Aber die bürgerliche Mittelschicht existiert wirtschaftlich gesehen nicht mehr, selbst ehemals Wohlsituierte suchen in Mülltonnen nach Essbarem.
Emilianos Mutter und sein kleiner Bruder können manchmal tagsüber nichts essen, weil das Geld nur für ein Brot am Abend reicht. Sein Vater ist im Dezember gestorben. Wer kann, verlässt das Land. Es fehlt an ärztlicher Versorgung. Orchester werden fusioniert, weil die Musiker nicht mehr da sind. „Es wird auf absehbare Zeit kein klassisches Musikleben geben, in dem ich mein Auskommen finden könnte. Es ist tragisch“, sagt Emiliano. „Ich vermisse mein Land. Am liebsten würde ich meine Familie hierherholen.“
In Deutschland hat er die Perspektive, von seiner Arbeit zu leben. Aber ob er nach dem Studium hierbleiben darf? Auch für einen hochbegabten Musiker stellen sich die gleichen existenziellen Fragen wie für alle anderen, die hoffen, in Europa ihr Glück zu finden. Was bei dem Gedanken daran in ihm vorgeht, verbirgt er hinter einem Lächeln. Dann verabschiedet er sich, seinen grünen Notenband hält er zusammengerollt in der Hand. Es ist noch früh am Abend. Übezeit. Emilianos großer Auftritt rückt näher.
Das Konzert mit dem Elbphilharmonie Publikumsorchester am 26. Januar ist ausverkauft.