Hamburg . Die TV-Moderatorin und der Journalist Michel Abdollahi plädieren zur Eröffnung der Hamburger Lessing-Tage für eine offene Gesellschaft.
Lessing, zum zehnten Mal also Lessing. „Gibt es denn nichts Wichtigeres auf der Welt?“, fragte Thalia-Intendant Joachim Lux selbstironisch zum Auftakt seines Festivals „Lessingtage – Um alles in der Welt“, die am Wochenende mit zwei Premieren, davon einer Uraufführung, und starken Reden eröffnet wurden.
Die Antwort gab der Intendant selbst: Lessings „vernunftbegabter Optimismus“ sei sogar „genau das“, was wir bräuchten: „Lessing war jemand, der gegen religiösen und sonstigen Fundamentalismus anschrieb, der nie aufhörte, an die Kraft der Vernunft zu glauben, ein Verfechter der Idee von Vielheit, Vorkämpfer für interkulturelle Toleranz.“
Nun also folgen 50 Veranstaltungen in zwei Wochen in diesem Geist – ja, da fällt einem in der Tat kaum ein passenderer „Schirmherr“ ein, während sich im Land gesellschaftlicher Konsens verschiebt und Hass, Populismus und sogar rechtsradikales Gedankengut keine Ausnahme mehr sind.
„Wir brauchen leidenschaftlich vernünftige Menschen“
Kultursenator Carsten Brosda (SPD) redete seinen Zuhörern ins Gewissen, sich gemeinsam „auf die Suche nach etwas Gutem“ zu begeben. Man müsse – und zwar: „trotzdem!“ – weiter miteinander reden – „damit schaffen wir Gesellschaftlichkeit“. Vernunft und Leidenschaft seien keine Gegensätze: „Wir brauchen leidenschaftlich vernünftige Menschen, viel mehr, als wir derzeit manchmal auf dem Platz haben.“
Zwei, die „auf dem Platz“ unermüdlich präsent sind, sind die Journalisten Dunja Hayali und Michel Abdollahi, die Lux zu „Plädoyers für eine offene Gesellschaft“ geladen hatte. Beide nutzten den Anlass, sowohl immer wieder erschreckende Beispiele für alltägliche Hetze zu geben, als auch anzumahnen, als Einzelner in der Gesellschaft wachsam zu bleiben.
Hayali wünscht sich Diskurs und Widerspruch mit Würde
Achtlos übernommene Sprache könne „strukturelle Verharmlosung“ befördern. „Hass, Beleidigung, Bedrohung oder Holocaustleugnung ist keine Meinung“, erinnerte Hayali, die in den sozialen Netzwerken regelmäßig mit Drohungen und Vergewaltigungsfantasien konfrontiert wird. Zum Prinzip der Meinungsfreiheit gehöre es, und das ist sicher auch ein Seitenhieb auf die leicht skurrile Debatte um den ehemaligen Handballer Stefan Kretzschmar, die Kritik anderer als solche anzuerkennen.
Hayali wünscht sich Diskurs und Widerspruch mit Würde – und stellt im Übrigen erneut klar, dass Deutschland 2015 die Grenzen nicht „geöffnet“ habe: „Wir haben sie nicht geschlossen.“ Sie dankte allen, die mit „anpacken“, und erhielt für ihre klaren, persönlichen und dabei immer wieder verblüffend gelassen vorgetragenen Worte mehr als nur einmal heftigen Applaus: „Ich glaube, viele wissen gar nicht, dass sie ganz persönlich einen Unterschied machen können.“
Hayali erinnerte an erprobte Wertesysteme
Unsagbares werde „so lange wiederholt, bis es nicht mehr unsagbar erscheint“, bekräftigte auch Michel Abdollahi und versicherte: „Migranten sind wirklich nicht schuld an jahrelangen Versäumnissen der Politik.“ Wenn die Politik schon nicht die Themen setzen wolle, die relevant seien (zum Beispiel Klimawandel, Kindergartenplätze), dann müssten es andere tun. Journalisten zum Beispiel. Deren beherrschendes Thema solle möglichst nicht die AfD bleiben: „Man kann es mit dieser Debatte auch übertreiben, und das tun wir.“ Abdollahis Rede im Wortlaut können Sie hier nachlesen.
Auf die Frage nach Ansätzen, Regeln und Lösungsvorschlägen erinnerte Hayali pragmatisch an erprobte Wertesysteme: „Das Grundgesetz, meinetwegen die zehn Gebote und der Satz ‘Behandele niemanden so, wie du nicht auch selbst behandelt werden willst’.“
Die Lessingtage sind eröffnet. Und es geht am Thalia Theater bis zum 3. Februar erneut um nicht weniger als um alles in der Welt.