TV-Moderator Michel Abdollahi hat einen offenen Brief an Angela Merkel geschrieben. Er macht sich große Sorgen. Der Brief in Auszügen.
Verehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Bundesregierung,
Ich bin in großer Sorge um das Land und die Bevölkerung. Die Stimmung auf der Straße wird zunehmend bedrohlicher. Mich erreichen täglich Dutzende Nachrichten von Menschen, die in Deutschland aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihrer Herkunft herabwürdigend behandelt werden.
Frau Bundeskanzlerin, mir schreiben Menschen, die auf der Straße beleidigt werden, weil sie eine andere Hautfarbe haben. Ich lese von Moscheen und Synagogen, die beschmiert, von Friedhöfen, die geschändet werden. Mir schreiben Menschen, die bei Behörden schikaniert werden, Menschen, die Angst haben, in was für einem Deutschland ihre Kinder aufwachsen werden. Ich habe das früher oft als Spinnerei und Überempfindlichkeit abgetan, ich habe die Augen selbst vor dem systematischen Rassismus in Deutschland verschlossen.
Aber seit den Ereignissen der letzten Zeit, seit der Enthemmung von Teilen der Bevölkerung, seitdem öffentlich „Absaufen! Absaufen!“ skandiert wird, LKA-Mitarbeiter bei Pegida mitlaufen, KSK-Einheiten der Bundeswehr den Hitlergruß zeigen, Journalisten durch die Polizei an ihrer Arbeit gehindert werden, der Präsident des Verfassungsschutzes sich zu Verschwörungstheorien hinreißen lässt und der Bundesinnenminister die Migration als Problem bezeichnet, ist es nicht verwunderlich, wenn Menschen mit Migrationshintergrund auch in ihrem Alltag diese Erfahrungen machen. Es schreiben mir Menschen, sie hätten Angst. Ich möchte aber nicht, dass sie Angst haben.
Die Zivilgesellschaft hält dagegen, so gut sie kann
Es reicht nicht mehr, dass einfach zur Kenntnis zu nehmen. Wenn die Regierung nicht aktiv handelt, wird sich dieses Feuer weiter ausbreiten. Die Zivilgesellschaft hält schon überall gegen, wo sie nur kann. Seien es die 65.000 Menschen bei #WirSindMehr in Chemnitz, 10.000 Menschen in Hamburg gegen die „Merkel-muss-weg-Demo“ oder zahlreiche andere Beispiele, wo sich die Gesellschaft mutig und kraftvoll gegen Hass und Hetze stellt. Die zahlreichen großen und kleinen Unternehmen, die sich für Vielfalt und Pluralismus aussprechen, oder die Künstler*innen, die mit ihren Stimmen gegenhalten. Wir brauchen dabei eine größere Unterstützung, damit die Hasserfüllten da draußen erkennen, dass sie mit ihrem Radikalismus nicht weiterkommen werden. Es braucht die kompromisslose Unterstützung der Bundesregierung. Ich kann sie aber nicht überall erkennen.
Schlag ins Gesicht
Der Bundesinnenminister macht uns Menschen mit Migrationshintergrund zum generellen Problem. Er nennt uns die „Mutter aller Probleme“. Er schlägt den 19,7 Millionen Bürger*innen, deren Eltern mal aus einem anderen Land hierhergekommen sind, ins Gesicht. Er schlägt diesen hart arbeitenden Menschen, die sich zu Millionen nahtlos in die Gesellschaft integriert haben, ihre Steuern zahlen und ihren Anteil zum Erfolg Deutschlands beitragen, ins Gesicht. All den Putzfrauen und -männern und Taxifahrern*innen, all den einfachen Arbeitern*innen, den Pflegekräften, den Menschen, die in diesem Land die Drecksarbeit übernehmen, genauso wie den Rechtsanwälten*innen, Ärzten*innen und Ingenieuren*innen, den Menschen in Wissenschaft und Forschung, Universitätsprofessor*innen, Bundestagsabgeordneten, Künstler*innen und Journalisten*innen. Er schlägt ihnen und ihren Kindern ins Gesicht. Er macht sie alle zum Problem. Ich bin aber kein Problem. Und ich lasse es mir auch nicht einreden.
Wir sind gekommen, weil unsere Heimat zerstört wurde
Frau Bundeskanzlerin, wissen Sie, wir wollten nicht hierherkommen. Ich hatte ein schönes Haus in Teheran, mit Spielsachen und Kinderbüchern. Mit meinen Freunden und meiner Familie. Meine Eltern hatten Arbeit, wir waren glücklich. Wir wollten nicht nach Deutschland kommen, um hier im Asylantenheim zu leben, um keine Arbeits- und keine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Um jeden Tag Angst zu haben, wieder weggeschickt zu werden. Meine Familie wollte ihr Land nicht verlassen, sie wollte hier nicht die Klos putzen und Taxi fahren. Sie wollte sich nicht beim Sozialamt anstellen und die Hand aufhalten, sie wollte ihre Kinder nicht unter großer Gefahr aus dem Land nach Hamburg schicken. Aber als Saddams Bomben uns trafen, haben wir uns dafür entschieden zu gehen. Wir kamen nicht hierher, um Deutschland kaputt zu machen. Wir kamen hierher, weil unsere Heimat kaputt gemacht wurde.
Wir haben uns integriert, wir zahlen unsere Steuern, wir arbeiten, wir sind ein Teil dieser Gesellschaft geworden, mittlerweile in zweiter und dritter Generation. Wir sind dankbar für das, was man uns gab. Wir sind kein Einzelfall. Die überwältigende Mehrheit der Migranten ist so. Aber für Herrn Seehofer sind wir die Mutter aller Probleme. Für ihn werden wir nie dazugehören. Das tut sehr weh. Wie lange soll ich mich noch ducken und dankbar sein? Und wie viele Generationen nach mir?
Selbstverständlich lehne ich jede Form von Extremismus ab. Die überwältigende Mehrheit der Migranten lehnt jede Form von Extremismus ab. Jeder Anschlag, jedes Verbrechen, jede noch so kleine Straftat, die von einem Migranten begangen wurde, macht mich unendlich wütend. Ich bete bei jeder Meldung darum, dass es kein Ausländer ist, damit der Hass sich am nächsten Tag nicht wieder gegen uns richtet. Wir sind nicht alle Islamisten, weil ein paar Verbrecher unseren Ruf in den Dreck ziehen. Aber der Bundesinnenminister verurteilt alle Migranten, weil sich ein paar nicht benehmen können und straffällig werden. Ich kann wirklich nichts dafür, dass sich einige Migranten in Deutschland nicht benehmen.
Innenminister pauschalisiert
Wenn am Stammtisch in der Eckkneipe oder bei Facebook in der Kommentarspalte pauschalisiert wird, kann ich das zumindest nachvollziehen. Aber ich kann nicht nachvollziehen, warum der Bundesinnenminister das macht. Ist er denn nicht auch mein Heimatminister? Ist Deutschland nicht auch meine Heimat? Ich verstehe nicht, wie sie meine Steuern akzeptieren können, aber nicht meine Persönlichkeit, meinen Glauben und meine Hautfarbe.
Selbstverständlich gibt es in Deutschland Probleme. Menschen fühlen sich abgehängt, sie sehen keine Perspektive oder haben Angst um ihre Zukunft, sei es, weil die Rente nicht reicht oder die Angst vor dem Fremden sie lähmt. Selbstverständlich muss man die Sorgen dieser Menschen ernst nehmen. Aber es kann nicht sein, dass diese Sorgen als Deckmantel für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus missbraucht werden. Das Heben des rechten Arms, das Zerstören eines jüdischen Restaurants oder das Anzünden eines Flüchtlingsheims sind keine hinnehmbaren Formen der demokratischen Meinungsäußerung.
Dieses Land wurde gespalten, und zwar nicht nur von blau-braunen Unruhestiftern, sondern mittlerweile von der Regierung, vom Bundesinnenminister, vom Chef des Verfassungsschutzes, von so vielen, die nicht spalten sollten. Das, was hier gerade betrieben wird, ist unverantwortlich. Die AfD sucht den Schulterschluss mit Rechtsradikalen und marschiert mit ihnen Seite an Seite durch Chemnitz und Hamburg. Spitzenpolitiker wie Seehofer und Kretschmer relativieren die Vorfälle in Chemnitz und tragen den Hass offen in die Mitte der Gesellschaft.
Staat vor einem Scheideweg
Frau Bundeskanzlerin, ich mache mir Sorgen um meine Zukunft und ob ich in diesem Land überhaupt noch eine Zukunft habe. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Sorgen je haben werde, aber ich habe sie jetzt. Wir diskutieren, wann eine Hetzjagd eine Hetzjagd ist, wie viele Ausländer wie lange getrieben werden müssen, damit man von einer Hetzjagd sprechen kann, während in Chemnitz bei den rechten Demonstrationen vermummte Neonazis ein jüdisches Restaurant angegriffen und „Hau ab aus Deutschland, du Judensau!“ gerufen haben. Wie der sächsische Ministerpräsident das bezeichnet, wissen wir nicht. Wir hängen uns gerade an Worten auf, dabei sollten wir uns mit den Taten beschäftigen.
Dieser Staat steht vor einem Scheideweg. Die Ereignisse in Sachsen sind nicht besorgniserregend, sie sind kein Warnzeichen, sie sind nicht alarmierend, sie zeigen, dass der Rechtsstaat in Deutschland in Teilen gescheitert ist und davor ist, weiter gravierend zu scheitern. (...)
Frau Bundeskanzlerin, ich weiß nicht, wohin dieses Land gerade driftet, aber ich habe das Gefühl, dass viele Menschen, die als Staatsdiener neutral und dem Grundgesetz gegenüber verpflichtet sein sollten, dies nicht mehr sind und dieses Land schleichend in Menschen 1. und 2. Klasse aufteilen. Ich finde diese Verhältnisse untragbar. Ich finde den Bundesinnenminister unerträglich. Den Präsidenten des Verfassungsschutzes halte ich auf allen Ebenen für nicht neutral, genauso halte ich den sächsischen Ministerpräsidenten für völlig gescheitert. Ich finde, Ihre Regierung sollte die demokratische Grundordnung und die Verfassung vor diesen Leuten schützen und endlich handeln.
Hören Sie unsere Rufe!
Frau Bundeskanzlerin, seien Sie bitte auch meine Bundeskanzlerin, die Bundeskanzlerin aller Migranten in Deutschland, aller Menschen, die diesen Hass nicht wollen. Lassen Sie es nicht zu, dass sich die Geschichte wiederholt. Wenn nicht jetzt gehandelt wird, ist es vielleicht zu spät. Bitte hören Sie unsere Rufe. Lassen Sie es nicht zu, dass Menschen in Deutschland ein weiteres Mal aufgrund ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer Hautfarbe erst diskriminiert und dann verfolgt werden. Das, was danach kam, kann ich nicht aussprechen. Aber zu denken, es sei einmalig, ist ein Irrtum. Lassen Sie nicht zu, dass die Erinnerung daran erlischt, und lassen Sie nicht zu, dass es sich wiederholt.
Leider ist die Stimme des Hasses momentan lauter, weil wir sie in den letzten Jahren so laut haben werden lassen. Es ist an der Zeit, das zu ändern. Das Ausland schaut bereits mit Sorge auf uns. Das Bild dieses wunderschönen Landes, mit seinen warmen, liebenswerten Menschen, die mir seit nun mehr als 30 Jahren eine zweite Heimat bieten, dessen Teil ich heute selbst bin, darf nicht zerstört werden.
Deutschland ist schon lange nicht mehr das Deutschland der Nazis, der rollenden Panzer, der Mitläufer und Armheber, es ist ein offenes, buntes und gastfreundliches Land. Es ist ein Land, das in Europa und der Welt als Beispiel vorangegangen ist und Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, während andere die Grenzen geschlossen haben. Daran haben Sie einen großen Anteil, und ich danke Ihnen dafür. Es ist ein Land, das mir ermöglicht hat, heute das zu machen, was ich mache. Es ist ein Land der Sicherheit, des Wohlstands und des Friedens. Lassen Sie uns dieses Land aufrechterhalten und nicht zulassen, dass die Extremisten weiter unser Bild prägen.
Ich möchte nicht ein zweites Mal meine Heimat verlieren.
Frau Merkel, #WirSindMehr.
Ihr Michel