Hamburg. In seinem Silvesterkonzert mutet der Generalmusikdirektor dem Publikum große Kontraste und Stimmungsumschwünge zu.

Liebe, Hoffnung, Begeisterung und last but not least: Optimismus. Diese vier Grundzutaten sinnstiftenden Daseins erwähnte und erklärte Generalmusikdirektor Kent Nagano bei seiner Silvesterkonzert-Rede in der Elbphilharmonie ausdrücklich. Sein Jahresend-Spezial-Konzert Nummer vier war es für ihn hier, die vergangenen zwölf Monate waren für viele – in aller Welt, in vielerlei Hinsicht – reichlich durchwachsen gewesen. Kein Wunder also, dass Naganos „Hurray…!“-Nach-Ruf für 2018 am Montagmorgen nicht nur nach sattem, dissonanzfreien Dur klang.

Das allerdings hatte er mit dem größten Teil des Repertoires gemeinsam, mit dem der Feiertag dekoriert wurde. Denn diese Zusammenstellung wäre bei der Planung des dauerherzigen Wiener Neujahrskonzerts womöglich nicht durchgegangen. Dort, mit den Wiener Philharmonikern im selig güldenen Musikverein, debütiert zum Start ins Jahr der Kollege Thielemann mit einer Walzer-Polka-Sause, als wäre die Sissi an der blauen Donau noch im Amt und auch der Rest der Welt mehr als in allerbester Ordnung; hoch über der Elbe dagegen begann Nagano sein Konzert mit dem Auftritt von vier apokalyptischen Schlagzeugern, der Introduktion zur Endzeit-Oper „Stilles Meer“ von Toshio Hosokawa, die die Katastrophen von Fukushima in die Erinnerung zurückrief.

Ein Ritual aus Rhythmus

Vier philharmonische Percussion-Fachkräfte waren zunächst zu bestaunen, die größtenteils mit bloßen Händen ihren Instrumenten den unaufhaltsamen Puls der vergehenden Zeit abrangen. Archaisches Dröhnen, ein Ritual aus Rhythmus, das zerstörerische Wogen des Meeres in Schallwellen verwandelt, harte Schicksalsschläge, auch als Auftakt für eine Abrechnung mit einem Jahr. Mit anderen Worten: Muss man mögen, so etwas, und erst recht als Einstieg in ein gern launig genommenes Silvesterkonzert.

Damit auch bis in den letzten Sitz im Bereich Z des Großen Saals klarer wurde, wie ernst es Nagano mit seiner Forderung nach grundsätzlichem Um- und Nachdenken war, wiederholte er diesen Part aus „Stilles Meer" wenig später. Nur deutlich länger, sicher ist sicher. Und zwischen zwei besinnlich gehaltenen Brahms-Motetten, die ebenfalls nicht nach Sonnenschein und ungebremster Himmelfahrt klangen, platzierte er ein abstraktes Frühwerk des kaum gespielten Edgar Varèse, dessen „Octandre“ für acht fein miteinander verdrahtete Bläserstimmen von 1924, ein Mobile aus Ideen, aus Widersprüchen und gewollten Reibungen konstruiert, als wäre es ein exemplarischer Bauhaus-Entwurf. Auch das ein per se ebenso grandioses wie widerspenstiges Stück Kunst, auch das als Absage ans Überhören von Grautönen im Hier und Jetzt ins Sortiment aufgenommen.

Große Stimmungsumschwünge

Das Gemüt konnte und sollte also schon leicht ins Trudeln geraten bei so viel philosophisch beschwerten Stimmungsumschwüngen, bei dieser arg großen Kontraste-Dosis. Dass die acht Varèse-Solisten, auch durch die Akustik des Saals gezwungen, größte Aufmerksamkeit in der Balance walten ließen, wäre auch an weniger symbolischen Tagen eine beachtliche Leistung.

Dass der schon durch die Räumlichkeit höchst motivierte Harvestehuder Kammerchor unter Leitung von Edzard Burchards die sanftbitteren Brahms-Motetten „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen“ und „O Heiland, reiß die Himmel auf“ gut bewältigte, bestätigte die qualitative Güte der hiesigen Chorszene (und war gleichzeitig eine weitere geschickte Einbindung lokaler Musikstadt-Bestandteile durch den Generalmusikdirektor). Und dass mancher nach diesen mürbe machenden Exerzitien noch entschieden froher war, den guten alten Johann Sebastian Bach und dann auch noch die beliebte 3. Orchestersuite zu hören, war verständlich. Kaum nämlich gab es Bach, war von den vorangegangenen Räusperern aus der wortlosen Beschwerde-Abteilung in den leisen Passagen deutlich weniger zu vernehmen.

Bach, Mozart und ein paar Kontrapunkte

Werke von Bach und Mozart, das seien für seine Hamburger Silvester-Programme die chronischen Grundlagen, sollte Nagano später erklären, denn „diese Musik ist für uns perfekte Musik“. Die anderen Werke: „Kontrapunkte, andere Perspektiven“. Grundsätzlich anders als bislang war der Umgang der Philharmoniker mit dieser heiklen Materie jedoch nicht. Man bemühte sich zwar um Transparenz und Detailschärfe, ließ hier und da historische Informationsanspielungen aufblitzen, ließ lieber die Finger von gefühligem Vibrato. Doch im größeren Ganzen war nicht nur aus dem beliebten Air in dieser Suite ernüchternd schnell die Luft raus, und Nagano bekam sie trotz seiner deutlich fordernden Gesten nicht wieder ausreichend tief zurück ins Stück. Ein guter Vorsatz mehr fürs nächste Jahr also vielleicht?

Danach, nach der Pause, fehlte nur noch die obligatorische Mozart-Portion. Bei diesem Anlass sollte es die „Spatzenmesse“ KV 220 sein, eine seiner frühen, genialisch dahingeworfenen Schnelldurchlauf-Messen für Salzburg. Auch hier wurde solide geliefert. Das Orchester arrangierte sich mit dem Aufgabenniveau, der Chor freute sich hörbar, dort zu stehen, wo er war, das wohlausgewogene Solistenquartett (Marie-Sophie Pollak, Ida Aldrian, Manuel Günther, Felix Schwandtke - vier junge Stimmen, die ihre Chancen nutzten) hatte seine herausgehobenen Momente. Alles in allem kein Meisterwerk, dafür aber das entscheidende, letzte Stück Aufhellung und Zuversicht, um diesem speziellen Silvesterkonzert doch noch eine Kadenz-Wendung ins Gute zu geben.