Hamburg. Dostojewski, Gorki, Thomas Mann, Heinrich Böll: Das „Fest der Liebe“ hat bedeutende Autoren zu Höchstleistungen angespornt.

Marzipan. Ist doch klar. Die Buddenbrooks leben in Lübeck, da gibt’s Kalorienbomben in Form zusammengepresster Mandeln. Dem kleinen Hanno Buddenbrook ist das Süßzeug in Thomas Manns Roman aber egal, ihn interessiert an Heiligabend lediglich die Bescherung im steifen Honoratiorenhaushalt. Wie alle Kinder. Aber da muss er warten, der Knabe! Denn das „weihevolle Programm, das der verstorbene Konsul für die Feierlichkeit festgesetzt hatte, mußte aufrecht erhalten werden“. Klingt nach, nun ja, altdeutschen Weihnachten, muss jedoch nichts Schlechtes sein.

„Weihnachten bei den Buddenbrooks“ gibt es sogar als eigenes Buch. „Mit den Rezepten des Weihnachtsmenüs“, heißt es im Verlagsprogramm von S. Fischer. Eine kulinarische Verkaufsstrategie, was sonst. Weihnachten ist das Fest der Fressalien! Und gemixt mit gediegener Kultur eine Seelenmassage, die, wie man so sagen könnte, alle Sinne anspricht. Deshalb waren in den vergangenen Dezember-Wochen sicher wieder viele Thomas-Mann-Ultras und Heiligabend-Genießer in Lübeck, um „Weihnachten bei den Buddenbrooks“ zu feiern. Im Thomas-Mann-Haus, mit Lesung, Kaffee, Kuchen, Altstadt, Weihnachtsmarkt. Stille Tage in Lübeck. Was soll es Besseres geben?

Vorliebe für sakrale Dunkelheit

Was nach der Re-Lektüre des berühmten Weihnachtskapitels festzuhalten ist: Erstens: Der Erzähler Thomas Mann (1875–1955) ist tatsächlich der Meister der Ironie, als der er immer dargestellt wird. Zweitens: Ein Auftritt des Hardcore-Hypochonders und Laber-Lufti­kus’ Christian Buddenbrook („Ich kann es nun nicht mehr“) muss unbedingt imaginiert werden, wenn man im Thomas-Mann-Haus Kuchen in sich hineinstopft. Lachen fördert die Verdauung. Drittens: Hanno Buddenbrook ist und bleibt die, Verzeihung, ärmste Sau. Der zarte Junge, der nicht gemacht ist fürs tatkräftige Buddenbrooks-Tun, bekommt nicht einmal ein ordentliches Weihnachtsgeschenk. Sondern ein Miniaturtheater, ein Harmonium, ein Buch über griechische Mythologie. Ojemine. Ein Königreich für eine Playstation.

Weihnachten in der Weltliteratur: Da ist Thomas Mann neben Charles Dickens („Eine Weihnachtsgeschichte“) jedoch sowieso der Bringer schlechthin. Dem weihevollen Stoff haben sich aber auch andere Literatur-VIPs gewidmet. Ziemlich viele sogar. Der Anziehungskraft von Tannenbäumen, Weihnachtsmännern und Christkindern, von kultureller Tradition und religiöser Erfahrungen, konnten sich unter anderem Autoren wie Selma Lagerlöf („Die Heilige Nacht“), Guy de Maupassant („Heilige Nacht“) Theodor Storm („Unter dem Tannenbaum“) und Hans Christian Andersen („Der Tannenbaum“) nicht entziehen. Die Behauptung mag vorsichtigen Zeitgenossen steil erscheinen, sie sei an dieser Stelle dennoch mutig ausgesprochen: Im Weltliteratentum herrscht also eine gewisse, kaum verhüllte Vorliebe für eine bestimmte Form sakraler Dunkelheit vor.

Geschichte über lüsternen Monsieur

Aber hinter der „Heiligen Nacht“ des Guy de Maupassant (1850–1893) steckt nun mal ein frivoler Franzose, und deswegen ist die Erzählung über einen lüsternen Monsieur („Ich habe, wie ihr wißt, eine Schwäche: Ich mag die gutgenährten Frauen. Je fleischiger, desto besser. Ein Koloß läßt mich den Verstand verlieren“), der aufgehört hat, Weihnachten zu lieben, gar nicht besinnlich. Sondern eine Komödie, in denen ein geiler Bock angemästetes Bauchfett mit etwas ganz anderem verwechselt. Das auf der Straße aufgelesene Mädchen ist nicht üppig, es ist schwanger. So kommt dann am Weihnachtsabend in seinem mit einem Male gar nicht mehr trautem Heim ein spezielles Christkind zur Welt. Eines, für das der Mann danach ein Leben lang zahlen muss, obwohl er nicht der Vater ist – „und nun wißt ihr, warum ich nie wieder Weihnachten feiern werde.“

Der große Robert Walser (1878– 1956) hat gleich mehrere kleine Weihnachtsstücke geschrieben, meisterlich hingeworfene Erzählminiaturen, die beste heißt schlicht: „Zwei Weihnachtsaufsätzchen“. Was ist dem besten aller Walsers besonders weihnachtlich? Das Miteinander. Der Familienterror. Brennende Christbäume. Die Ironie des Robert Walser ist mit Lametta-behängten Händen zu greifen, seine Wortbauerei extraordinär: „Das Familienoberhaupt war Notar, dessen Töchter beim Gedanken, sie seien heiratsfähig, konventionell kicherten. Die männliche Nachkommenschaft schaute mit einer etwas doch schon beinahe allzu pyramidalen Seriosität in die lieblich-glänzende Weihnachtsbäumlichkeit hinein. Jetzt trat das Christkindchen herein.“

Weihnachten als Elendsmärchen

Weihnachten ist, Stichwort: Stall, aber nicht nur das Fest der Notare und ihrer privilegierten Bagage. Es ist das Fest der Armen, weshalb Autoren wie Maxim Gorki („Heiligabend“), Fjodor Dostojewski („Der Knabe am Weihnachtsabend beim Herrn Jesu“) und auch Wolfgang Borchert („Die drei dunklen Könige“) das Weihnachtsfest als Elendsmärchen erzählen. Besonders herzergreifend Dostojewski (1821–1881), in dessen Geschichte eine Mutter und ein Kind sterben, aber Erlösung im Jenseits finden. Ganz bestimmt. Und Maxim Gorki (1868–1936) ist in seinem Stück ganz auf der Seite der mittellosen Hungerleider. Er schenkt ihnen ein zufälliges Date mit einem Pelz tragenden, an seiner eigenen Wohlsituiertheit erstickenden „Inspektor“, das in einem Saufgelage endet. Der Bonze bezahlt seinen mutwilligen Ausflug in die Welt der Deklassierten mit einer geleerten Brieftasche. Alle Sympathien sind bei den Streunern, den Schwachen: Das ist immer so und erst recht im Falle einer Weihnachtsgeschichte.

Weihnachten, ganz unheimelig und unbürgerlich auch bei Borchert (1921– 1947): Dort ist eine Art Heiland nämlich in einer aktualisierten, einerseits überzeitlichen und andererseits stark post-weltkriegerischen („Die Häuser standen abgebrochen gegen den Himmel“) Heiligabend-Szenerie zur Welt gekommen. Wieder ist der Hunger ein dominantes Motiv, das Kind liegt schweigsam in seiner Krippe. Dann kommen drei dunkle Gestalten, versehrt und zerlumpt. Argwöhnisch beäugt von den Kindseltern, quarzen sie ihre Zigaretten, die Lungenbrötchen des armen Mannes. Das Kind bekommt einen geschnitzten Holzesel, die Erwachsenen je ein Bonbon geschenkt. Dann ziehen die „dunklen drei Könige“ von dannen, und das Baby schreit endlich laut – mehr Reichtum gibt es nicht in einer solch magischen Nacht.

„Das Weihnachtsfest“ von Carlo Dossi macht Appetit

Weil Weihnachten praktisch eine deutsche Erfindung ist (waren nicht wir es, die den Weihnachtsbaum und leider auch den Glühwein-verseuchten Weihnachtsmarkt zuerst für eine gute Sache hielten?), bleiben wir beim Blick in die Weltliteratur national. Und müssen nun über Heinrich Böll (1917–1985) sprechen, den katholischen Nobelpreisträger, für den sich in der Erzählung „Krippenfeier“ die Unruhe der Moderne im Treiben am Bahnhof manifestiert. Die Kirche („Mette: 0.00 Uhr, Einlaß 23 Uhr“) hat noch zu, auf dem Vorplatz des Bahnhofs läuft erstmal noch Beethoven. Aber später gibt es gar keinen Trost mehr; in der Telefonzelle hat der Mann, um den es geht, hochsymbolisch niemanden erreicht. Aber Benz, wie die einsame Figur heißt, hört die „Neunte“ und spürt vielleicht auch die Freude schöner Götterfunken. Er denkt an die Schöne, die er vorhin sah. Dann „etwas wie Frieden“ im Bahnhof. Alles dunkel, und nur im Kasten mit den Krippen­figuren brennt noch Licht. Der „heilige Joseph“ und die Heiligen Drei Könige also, heller wird es heute hier nicht mehr werden.

Ob es Zufall ist, dass in Jonathan Franzen „Die Korrekturen“, jenem 2001 erschienenen Familienroman, Weihnachten zwar der erzählerische Fluchtpunkt ist, aber das Fest der Liebe eher so im Vorbeigehen missrät? Enid will ihren dahinsiechenden Mann Alfred und die drei längst erwachsenen Kinder Gary, Denise und Chip noch mal vorm Christbaum versammeln, und einer schafft es dann erst viel zu spät, da ist alles schon so gut wie vorbei. In der Postmoderne gibt es die große Erzählung von Weihnachten nicht mehr.

Weshalb wir uns zu guter Letzt noch einmal an die Kulinarik halten. Marzipan gut und schön, aber man muss doch bitteschön zwingend „Das Weihnachtsfest“ des Carlo Dossi (1849–1910) lesen, um sich wirklich Appetit auf Heiligabend zu holen. Der sehnsüchtig und nostalgisch (Nostalgie! Die Kernkompetenz jedes Weihnachtsfests!) gestimmte Erzähler erinnert sich der lukullischen, der unbedingt italienischen Höchstleistungen am Kochlöffel. Und so berichtet er vom Treiben auf dem Markt, wo die Köche einkaufen, der „Pracht eines Baldachins aus Würsten, Schinkenscheiben und Wurststrängen aus Monza, zwischen würzigen Tränenströmen des Parmesan und kunstvollen Anwandlungen der Butter ...“

Gutes Buch nach dem Fressen

Der Satz ist längst noch nicht zu Ende, wir kürzen hier ab und lachen den Vegetariern frech ins Gesicht – und freuen uns auf die Verdauungsstunde nach dem großen Fressen mit einem guten Buch in der Hand.