Hamburg. „Alles ist möglich“, das neue Buch der Pulitzerpreisträgerin, erscheint jetzt auf Deutsch. Ein hervorragendes Vielpersonenstück.
Die Provinz ist ein gern besuchter Ort in der US-amerikanischen Literatur. Einer der berühmtesten Romane, die im ländlichen Amerika spielen, ist Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“. Er erschien im Jahr 1919 und gilt als einer der wichtigsten amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts. Obwohl manche ihm seit jeher absprechen, überhaupt ein Roman zu sein. Sie halten „Winesburg, Ohio“, jene Beschreibung der Schicksale einiger Kleinstadtbewohner, für eine Short-Story-Sammlung.
Eigentlich aber egal, über was sich die Literaturwissenschaft ihren Kopf zerbrechen will: Entscheidend ist die erzählerische Finesse, mit der hier von Menschen berichtet wird. Das rurale Amerika ist auch in jüngerer Vergangenheit literarisch vermessen worden, von Autoren wie Tom Drury, Josh Weil und Emily Ruskovich. Sie alle schreiben in der Tradition von William Faulkner und Sherwood Anderson. Aber niemand ist speziell Letzterem so nahe gekommen wie jetzt Elizabeth Strout, deren jüngster Roman „Alles ist möglich“ nun auf Deutsch erschienen ist.
Strouts berühmtester und erfolgreichster Roman ist „Olive Kitteridge“. Er erschien 2008, wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und später mit Frances McDormand („Fargo“) in der Hauptrolle sehr sehenswert verfilmt. Geboren 1956 in Maine und aufgewachsen in Maine und New Hampshire, ist Strout mit dem Alltagsleben in Kleinstädten vertraut. „Alles ist möglich“ ist genau wie „Winesburg, Ohio“ ein Werk, in dem jedes Kapitel wie eine Kurzgeschichte ist. Und gleichzeitig eine mal herzzerreißende, mal schicksalsgedrängte, mal bizarre Vignette provinziellen Lebens.
Leser sympathisiert mit den Romanfiguren
Alltäglich ist in Amgash, einer Kleinstadt im Mittleren Westen, jedes Geschehen: Es gibt keine Abenteuer zu bestehen, keine außergewöhnlichen Geschehnisse, keine Besonderheit, keinen Ruhm jenseits der lokalen Prominenz. Und so sind es all die menschlichen, allzu menschlichen Vorgänge, die für Außeralltäglichkeit im Kleinen sorgen; emotionale Manöver, die mit Macht persönliche Schicksale verändern. Längst erfolgte Offenbarungen, die in späte Dramen münden. Versteckte Begierden, über die jeder Bescheid wusste und die dann plötzlich sehr deutlich werden.
Ehebruch, Außenseitertum, heimliche Homosexualität, Inzest, Armut. Allesamt Themen, die man Stereotypen nennen könnte. Wäre da nicht eine Erzählerin, die jene Themen so in Szene setzt, dass niemand ihr aus der Berechenbarkeit der menschlichen Existenz einen Vorwurf machen würde. Man sympathisiert mit den Figuren, weil sich angesichts der Wiedererkennbarkeit menschlicher Regungen das identifikatorische Lesen sofort einstellt. „Alles ist möglich“ ist ein Buch, das von Menschen handelt, die sich nicht immer in Menschen hineinversetzen können. Aber sie versuchen es zumindest.
Zum Beispiel der alte Tommy Guptill, ein früherer Hausmeister. Er ist die erste auftretende Person in diesem Vielpersonenstück. Wie gesagt, ein Hausmeister! Sinnbildlicher geht es nicht. Kleine Leute, kleine Dramen. Guptills Milchfarm ist einst abgebrannt, erst danach ließ er sich an einer Schule anstellen. Eine Schule, die auch die Barton-Kinder besuchen, deren Vater einst als Tagelöhner auf Guptills Farm arbeitete. Die Bartons waren immer arm, und aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar sind, bringt Tommy Guptil Jahre nach seiner Pensionierung Pete Barton immer noch so etwas wie Fürsorge entgegen.
Der Provinz entkommen
Pete ist der letzte verbliebene Barton im Ort, die Schwestern sind weggezogen. Wie Elizabeth Strout eine von den Unterströmen des Vergangenen geformte Begegnung zwischen Tommy und Pete schildert, ist ein kleines Meisterstück – und beispielhaft für dieses Buch. „Wir sind alle irgendwo verkorkst“, sagt eine der Romanfiguren einmal.
Ausgerechnet eine Romanautorin – Petes Schwester Lucy Barton – ist es, die der Provinz entkommen ist, um andernorts, in der großen Stadt New York, von den anderen, glamourösen Möglichkeiten des Lebens zu kosten. Als Lucy für einen Nachmittag zurück nach Amgash kommt, um ihre Geschwister zu besuchen, erleidet sie eine Panikattacke. Was man nicht unbedingt als allzu explizite Attacke gegen ländliche Herkunftswelten lesen muss, aber durchaus kann. Da hilft es nichts, dass die Bewohner des unbekannten Amerikas hier viel sympathischer erscheinen als die der Städte, die in den kleinen Ort einfallen.
„Alles ist möglich“ ist ein Roman über die Optionen, die man im Kleinen verwirklichen kann und über die Sehnsucht, die einen in die Welt hinaustreibt.