Hamburg. Vor 250 Jahren starb der zu Lebzeiten bewunderte Barock-Komponist in der Musikstadt Hamburg, die erst jetzt an Würdigungen denkt.

Telemann war zu fleißig, einen eindeutigen Hit als Markenzeichen hatte er nicht, und er wurde viel zu alt. Mit diesen falschen, perfiden Klischees ist schon sehr viel über das ­musikhistorisch einmalige Dilemma ­gesagt, das Telemann posthum den Ruf eines entbehrlichen C-Komponisten ­andichtete. Jeder kennt Johann ­Sebastian Bach und zählt ihn ohne nennenswerte Wenns und Abers zu den Allergrößten. Der Tonsetzer-Kollege Händel, als Opern-Spezialist im mondänen London eher für die weltlichen Freuden an und in der Musik zuständig als der gläubige Thomaskantor in der mitteldeutschen Provinz, wird selbstverständlich in einem Atemzug genannt.

Aber Telemann, zu Lebzeiten europaweit bekannter als diese seine Zeit­genossen? Der gebürtige Magdeburger, 46 Jahre als Director musices an einem anderen Abschnitt der Elbe ein Superstar des deutschen Spätbarock? Der rund 3600 Werke schrieb, also mehr als Bach und Händel zusammen: rund 50 Opern, Oratorien, 46 Passionen, Messen und Psalmen, 1400 Kirchenkantaten, 70 weltliche Kantaten, 40 „Kapitänsmusiken“, Lieder, Oden und Kanons, um die 1000 Orchestersuiten, über 100 Solokonzerte, Kammer-, Klavier- und Orgelmusik.

­Romantisierende Künstler-Berichterstattung

Jener Telemann, dessen Grabstätte unter dem jetzigen Hamburger Rathaus begraben wurde? An den dort – mitten in der selbst ernannten Musikmetropole mit ihrem Traditionseifer – gerade mal eine Grabplatte mit einem Datumsgravur-Fehler ­erinnert, während andere Komponisten-Heimatorte ganz andere Würdigungsstätten schufen und schaffen? Im Programmbuch des Telemannstädte-Netzwerks wird diese Behandlung „hanseatische Sachlichkeit“ genannt.

Je steiler Bachs Leit-Stern stieg, ausgelöst vor allem mit der Wiederentdeckung durch Felix Mendelssohn Bartholdy 1829, desto tiefer sank seitdem der Stern von Telemann. Er sank auch, weil die ­romantisierende Künstler-Berichterstattung des 19. Jahrhunderts nichts und niemanden insbesondere neben Bach zulassen wollte. Kleine Ironie dieser Geschichte: Die Kantate „Ich weiß, das mein Erlöser lebt“ (BWV 160), die manche Bach-Biografen verzückte, stammt aus Telemanns Feder.

Erinnerung an ein Originalgenie

Dieser Georg Philipp Telemann, 1767 im biblischen Alter von 86 Jahren gestorben, wird – trotz der klitzekleinen, herzensgut gemeinten Gedenkstätte im Komponistenquartier – auch hier weit unter Wert und ­Bedeutung ­gedacht, ­gespielt, gewürdigt. Nach wie vor. Wolfgang Rihm, einer der wichtigsten Komponisten der Gegenwart, findet inzwischen: „Telemann war ein Beweger, wichtiger als sein Freund Bach.“

Am 25. Juni jährt sich der Todestag zum 250. Mal, und es ist ­bezeichnend, dass ausgerechnet die wichtigste Stadt in Telemanns Lebenslauf im Jahr eins mit Elbphilharmonie dieses Datum als Auftakt zu größeren, ­angemessenen Feierlichkeiten zielsicher verpasst hat: Erst im Herbst ­beginnt mit einem Festival (s. unten) die konzertante ­Erinnerung an ein Originalgenie, wie es kein Zweites gab, nicht einmal in der einzigartigen Musikgeschichte dieser Stadt.

Posthume Leidensfähigkeit nötig

Aber diese Würdigung passiert nicht an der Staatsoper, der Nachfolgeadresse des Opernhauses am Gänsemarkt, in dessen Direktorium Telemann einige Jahre die Fäden zog, als es dort kriselte. An der Dammtorstraße setzt man andere Schwerpunkte. Kann man machen, fällt unter Freiheit der Kunst, erst recht, wenn man weiß, dass Generalmusik­direktor Kent Nagano Bach vergöttert, aber als Praktiker mit barocker Oper fremdelt. Es verwundert dennoch.

NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock wiederum, als Harnoncourt-Schüler heißherziger, erfahrener Fachanwalt für Alte Musik, dirigiert zwar am Todestagsdatum ein Sonntagnachmittags-Konzertchen auch mit Telemann im Großen Saal der Elbphilharmonie, doch bis vor Kurzem stand dazu auf der Konzerthaus-Website nur: „Orchestersuite“. Das signalisierte: ­irgendeine, ist doch egal. Fürs Protokoll: Inzwischen ist es, ­warum auch ­immer, die D-Dur-Suite TWV 55/D18. Mit Mozart, Beethoven oder dem Hamburger Ehrenbürger Brahms hätte man sich solche Pauschalbuchungen an Symbol-Daten nicht ­erlaubt. Telemann hat auch posthum leidensfähig zu sein.

Telemann verdiente wie ein Bürgermeister

Bleibt die Frage: Was macht dessen Musik so speziell, so hörenswert, so wichtig, so besser als vermutet, dass es den Aufstieg auf die Notenberge lohnt? Sie hat von vielem ­etwas, klingt sympathisch vertraut und verlässlich, ist weniger ­gefühlsextrem und radikal als die Arien Händels, aber sehr weit oberhalb von ­jener Kunsthandwerk-Kategorie, in die sie nach seinem Tod verbannt wurde

Telemann spielte virtuos mit den Stilen und Ausdrucksgepflogenheiten seiner Zeit. Er stellte sich und sein Ego – ­obwohl er als Selbstvermarkter und Verleger auch ein enorm gewiefter ­Geschäftsmann war – ganz in den Dienst seiner Kunst. Den ­Titel Generalintendant gab es damals noch nicht, verdient hätte er ihn. Nach einer raffiniert erstrittenen ­Gehaltserhöhung verdiente er etwa so viel wie ein Bürgermeister, auch das ist heute anders. Komponieren konnte Telemann wie auf Knopfdruck.

Fingerübung und Floskelsammlung

So wie es sein Arbeitsplatz als ­ge­brauchsmusikalischer Zeremonienmeister für die fünf Hauptkirchen von ihm verlangte; zu bespielen waren etwa Pflichttermine und Feierlichkeiten wie die Petri- und Matthiae-Mahlzeiten oder die Festmahle der Bürgerwachen-Offiziere. Nebenbei organisierte er Konzerte im Konzerthaus auf dem Kamp.

Eine Gefahr besteht bei Telemanns Musik allerdings auch: Mittelmäßige Interpretation verträgt sie nicht; dann klingt sie schneller, als es den Interpreten lieb sein kann, nach Steckbausatz, Fingerübung und Floskelsammlung. Wer mit Telemann vor Publikum glänzen will, kann nicht tricksen und benötigt starke Nerven. Und der für seine spitze Feder gefürchtete Komponist und Musikschriftsteller Johann Mattheson schrieb: „Ein Lully wird gerühmt, Corelli lässt sich loben, nur Telemann allein ist übers Lob erhoben.“ In Hamburg ist noch Luft nach oben.