Hamburg. Thomas Köck und Elsa Sophie Jach erzählen „Dritte Republik“ als zerfasertes Märchen im Thalia Gaußstraße. Sehenswert? Ja!
Barbara Nüsse flucht. Reichlich Kraftausdrücke kommen ihr über die Lippen, als sie da mit einem riesigen Koffer in einem Schneesturm die Orientierung verliert. Ganz allein ist sie als Landvermesserin im eleganten Anzug. Außengrenzen soll sie vermessen, aber die sind lange verweht an diesem namenlosen Ort, an dem die Nebelmassen auch dem Zuschauer die Sicht verschleiern.
Es ist eine nicht immer bequeme Reise ins Ungewisse, die der österreichische Autor Thomas Köck Nüsses Figur in seiner Uraufführung von „Dritte Republik“ im Thalia in der Gaußstraße antreten lässt. Gemeinsam mit Co-Regisseurin Elsa-Sophie Jach kreiert Köck ein Theater der surrealen Traumstationen.
Gefallene, Verwundete, Verirrte
Angesiedelt irgendwo in einer Zwischenkriegszeit, erzählt es doch vom Heute und vom Morgen. Der Text des vielfach Preis-dekorierten Autors zeugt dabei von Formwillen und -können und ist mit Gegenwartsbezügen gespickt, weshalb Nüsse (soeben mit dem Faust-Preis als beste Darstellerin gekürt und eine tragende Säule auch dieser Inszenierung) als Landvermesserin „die Natur als Mutter aller Probleme“ verflucht. Die verqueren, vom Krieg porös und zynisch gewordenen Gestalten, die ihr begegnen, hätte Kafka seinem ahnungslosen K. nicht besser ins „Schloss“ senden können. „Am Ende schafft der Mensch sich selber ab“, philosophiert der vergebens auf einen Arzt wartende Björn Meyer als Kutscher in die Stille nach dem verlorenen Krieg hinein.
Schillernd auch Victoria Trauttmansdorff als im Baum gestrandete, blinde Fallschirmspringerin: „Ein Krieg endet nicht, der wird immer nur pausiert, der verschwindet von den Gräben in die Körper, dort lässt sich der nieder bis er wiederkehren kann, der Krieg.“
Alle sind sie Gefallene, Verwundete, Verirrte. Alles ist hier Fragment. Nirgends ein Halt. Am schlimmsten trifft es Bekim Latifi als Patient in Camouflage-Unterhose und durchsichtigem Anzug (Kostüme Sophie Klenk-Wulff). Mit zuckenden Kopfbewegungen faselt er von dem ersehnten „Top Shape“, dem Normgewicht, dass er erreichen müsse, um den Anforderungen einer neuen Obrigkeit zu genügen.
Totale Autokratie
Köck und Jach haben ihr Stationendrama raffiniert angelegt, der episodische Charakter aber ist fordernd. Der Text ist moralisch und will es auch sein, wenn etwa vom Krieg der Gegenwart die Rede ist, der sich in das „harte Aussortieren am Arbeitsmarkt“, die neoliberale Konkurrenzsituation verlagert habe. Von hier aus zeichnet er das Schreckgespenst einer totalitären Autokratie in der titelgebenden „Dritten Republik“, Fantasie eines totalitären Regimes der FPÖ in Österreich seit den 1990er-Jahren, die immer mehr Anhänger in der Welt zu finden scheint.
Allein, viele kluge Gedanken und Worte, viel Nebel und Musikeffekte ergeben noch kein mitreißendes Theater, trotz gelungener Bilder, etwa wenn der weibliche Chor der Gehilfen toll bandagiert eine akkurat gezirkelte Choreografie hinlegt. Hinreißend auch Tilo Werner als dauersuizidaler Hamburger Reeder Albert Ballin, der in seinem mit größter Selbstverständlichkeit gelebten Weltbürgertum die Grenzziehung für überflüssig erklärt.
Alle Darsteller liefern ihre Kunst aufs Feinste ab. Die Macher wollen viel, vielleicht zu viel. Die Verirrung der Vermesserin nimmt zu, und mit ihr verlieren sich auch Stringenz und Fokus des Stückes. Andererseits beschreibt genau das beklemmend den Zustand unserer gegenwärtigen Welt. Sehenswert? Dennoch, ja.
„Dritte Republik“ 16.11., 17.11., 20.11., 23.11., 7.12., 11.12., 20.12., jeweils 20.00, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten unter
T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de