Hamburg. Die Indierock-Band spielte zum doppelten Jubiläum groß auf: Der Kopf muss nicht alles erfassen, solange sich Gefühle regen.

Für eine Sekunde könnte es ein normaler Abend im Thalia-Theater sein: Hunderte Sterne leuchten als Kulisse, ein paar Lichteffekte zucken. Doch dann tänzelt Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow nach vorn, grinst frech, fast so, als hätte er dem Star des Abends noch eben das Jackett und den Platz auf der Bühne gestohlen. Das hier ist eine schelmische Übernahme – oder zumindest eine Bühnenreise in andere Sphären.

Zu einem doppelten Jubiläum von Hamburger Indie-Rock- und Theaterinstanzen werfen Tocotronic das Raumschiff an: zurück durch die eigene Geschichte und die Biografien der Zuhörer. „175 Jahre Tocotronic, 25 Jahre Thalia!“, verdreht von Lowtzow noch eben die Jahreszahlen, dann gleich Warpantrieb, „Let there be rock“; satte Gitarren und Schlagzeughiebe poltern in bittersüße Tage der 90er-Jahre. „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“.

Geborgen in Melancholie

Im ausverkauften Saal lässt man sich da erst einmal vom glasklaren Klang berieseln – die vielen Mittzwanziger-Pärchen mit Rundbrillen wie die älteren Semester, die Zeilen der Klassensprecher aus der „Hamburger Schule“ schon Jahrzehnte auf T-Shirts und in der Seele tragen. Ohne Pause ziehen mittelgroße Songmeteoriten an ihnen vorbei, „Hi Freaks“, „Wie wir leben wollen“, „Nach Bahrenfeld im Bus“. Eine junge Frau steht als Erste auf und tanzt, andere Blicke werden glasig.

Vielleicht war das immer die Stärke dieser stets verkopften, manchmal verrätselten Band: Dass fast jeder Song und Text es dem Hörer überlässt, sich in Melancholie geborgen oder zur Melancholie ermuntert zu fühlen. Es hat auch die vier Bandmitglieder jungenhaft gehalten – und doch zeigt der stärkste Moment des Abends, was möglich ist, wenn sich Tocotronic mehr Direktheit trauen. Von Lowtzow singt den neuen Song „Unwiederbringlich“ über den Tod eines geliebten Menschen, es sind klare, zarte Stiche. Der Saal steht jetzt, der Parforceritt geht weiter, mit wütendem „Aber hier leben, nein Danke“ und dem gelassenen Willen zur „Kapitulation“.

Gefühle regen sich

In 25 Jahren haben Tocotronic nie die Welt verändert, wie es manchmal der Anspruch schien. Es macht nichts, wenn die Prinzipien noch stehen. „Pure Vernunft darf niemals siegen“: letzter Song. Ekstase. Während von Lowtzow die kryptischen Zeilen singt, ist es wieder wie zuweilen im Theater: Der Kopf muss nicht alles erfassen, solange sich Gefühle regen.