Hamburg. Der neue Rowohlt-Verleger Florian Illies knüpft mit seinem neuen Buch an den großen Bestseller „1913“ an.
Als sich der Autor und Perlensucher Florian Illies vor sechs Jahren literarisch ins Jahr 1913 begab, ahnte er wohl eher nicht, dass ihm mit der kunstvollen Wiederbelebung einer epochalen Zeit ein gewaltiger Hit beim lesenden Publikum gelingen würde. In „1913: Der Sommer des Jahrhunderts“ beleuchtete Illies jene heiß gelaufene kulturelle Menschheitsphase, die dem erstmaligen internationalen Schlachten unmittelbar vorausging. „1913“ war ein rasanter Ritt durch ein Jahr, in dem Europa noch mal zu großer, ja begeisternder Form auflief und, tatsächlich, die Moderne einläutete. Unsere Welt ist jedenfalls erkennbar in den Kunstwerken und Erfindungen von damals.
Eine Schwellenzeit, und nur wenige Monate, nur wenige Jahre später materialisierte sich der Fortschritt im Giftgas von Verdun und Co.; der Tod war ein Meister aus Europa. Aber man las das, als man gebannt Seite um Seite umblätterte in Illies’ Panoramawerk, nicht zwangsläufig mit. Eher genoss man das Who is Who der europäischen Kunst- und Geistesgeschichte, jenen Pantheon der Pioniere und Schöpfer. Bei Illies waren sie Getriebene des Weltgeistes und trieben diesen doch auch vor sich her. „1913“ war eine Erinnerung an all die schönen, unwahrscheinlichen, lächerlichen, kuriosen und berühmten Geschichten, die man fast vergessen oder von denen man noch nie gehört hatte.
Jetzt liegt der Nachschlag vor, das, was damals übrig blieb. Neue Perlen, oder wie Illies sagt, der frühere „FAZ“-Journalist, „Zeit“-Herausgeber und Demnächst-Verleger beim demnächst wieder in Hamburg ansässigen Rowohlt-Verlag: Er habe noch „schönere Schätze“ gefunden „auf dem Meeresgrund“.
Illies' neuer Roman ist unterhaltsam und lehrreich
„1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ heißt das neue, erneut äußerst unterhaltsame Kulturkompendium. Aber was heißt unterhaltsam, lehrreich ist es auch wieder. Was eine Erklärung für den jetzt erwartbaren Erfolg auch dieses zweiten Bandes ist. Der Bildungsbürger kennt den Ehrgeiz, der mit kulturellem Wissen einhergeht, aber selten bekommt er Letzteres so kurzweilig und mundgerecht serviert wie hier.
Alles wieder da: der Klatsch und die Sternstunde, das Drama und das Hochgefühl, das gesellschaftliche Ereignis und die private Eskapade – wichtig ist nur, dass Weltgeschichte anhand der Personen erzählt wird, die sie machen. Hermann Hesse, dessen Ehe scheitert. Kafka, dessen amouröse Verkorkstheit dafür verantwortlich ist, dass er nicht mal eine Ehe zustande bringt. Rilke, der noch verheiratet ist, sich aber – ein Dauerwitz bei Illies: stets verschnupft – alleine auf Kur befindet, besonders gerne Frauen schreibt und sich hier eine Verliebtheit gönnt und dort noch eine.
Und jenseits wollüstiger Literaten? Taucht zum Beispiel Franz Marc auf, über den Illies erst mal nur beruflich informiert: Marc malt 1913 sein berühmtes Bild „Der Turm der blauen Pferde“, das Illies gar ein „Jahrhundertbild“ nennt. Literatur und Kunst, das sind die beiden Leidenschaften des Autors, und so verfolgt er im zweiten „1913“-Teil deren Geschicke, zoomt heran oder blickt von oben auf sie, aus historischer Perspektive. Das Treibhaus, das die (westliche) Welt des frühen 20. Jahrhunderts darstellt, wird jedoch nicht nur von den Künsten befeuert, das wäre ein eitler Gedanke. Und so tauchen auch die anderen Disziplinen der Geisteskraft und des gesellschaftlichen Lebens auf und mit ihnen Namen wie Sigmund Freud, der 1913 ein Seminar abhält, an dem die legendär kontaktfreudige Lou Andreas-Salomé teilnimmt, Mata Hari, Niels Bohr und Henry Ford, um nur einige wenige Beispiele mehr zu nennen.
Erster „1913“-Band ist in 27 Sprachen übersetzt worden
Sie alle waren angeschlossen an jenes von Illies so prominent hervorgehobene, energiegeladene Jahr, weil sie physikalische Grundannahmen aus den Angeln hoben, weil sie die maschinelle Produktion für immer veränderten oder weil sie als Ingenieure der Seele das humane Wissen vorantrieben.
Alles steht gleichberechtigt neben allem, Kandinskys besorgte Mutter („Sie macht sich Sorgen, seit ihr schöner, stolzer Sohn so abstrakt geworden ist“) neben Tucholskys erstem Text in der „Schaubühne“, Oskar Kokoschkas und Alma Mahlers Capri-Kapriolen neben dem Patent, das Siemens für die Telefonwählscheibe bekommt.
Jack London, der, noch jung an Jahren, bereits dabei ist, sich in Amerika totzusaufen, steht neben Marcel Proust, der dabei ist, in Frankreich den ersten Band der „Recherche“ fertigzustellen und außerdem sehr unglücklich und kostenintensiv in seinen Chauffeur verliebt ist. Der erste „1913“-Band ist in 27 Sprachen übersetzt worden; auch deswegen lohnt sich immer der Blick über die deutschen Grenzen hinaus. Frankreich vibrierte nicht weniger als Deutschland, was die kulturellen Hervorbringungen anging, und ausgerechnet diese beiden „Erbfeinde“ waren es, die die Zivilisation in den Schützengräben fürs Erste zu Grabe trugen.
Manchmal geraten Illies die Miniaturen zu verjuxt
„1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte“ ist geschickt collagiert und als Abriss eines Jahres eine ebenso objektive wie subjektive Erzählung. Warum nicht 1912, warum nicht 1914? Als dramaturgischer Kniff ist das Jahr, bevor der Sturm losbrach, einfach perfekt gewählt: Bevor die Menschheit ihr Schlechtestes zeigt, bringt sie ihr Bestes hervor – und liefert einen Eindruck davon, dass in Zukunft die jetzt erst empfundene Gleichzeitigkeit allen Geschehens an der Tagesordnung sein wird.
Manchmal geraten Illies die Miniaturen zu verjuxt, da gehen dann die Gäule der forcierten Spritzigkeit mit ihm durch. Manche Pointe fliegt ihm dagegen einfach so zu, etwa diese: „Die ,New York Times‘ würdigt den deutschen Kaiser Wilhelm II. anlässlich seines fündundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums am 15. Juni als ,den großen Friedensfürsten der Welt‘.“
Alles ist im dramatischen Präsens erzählt, und alles ergibt den zweiten Roman eines Jahres, der genauso spannend ist wie der erste und, tatsächlich, von dem Zeitalter berichtet, in dem, so Illies, „die Welt so an Tempo gewonnen“ hat wie in keinem anderen.