Hamburg . Der Generalmusikdirektor dirigiert, vermittelt und navigiert durch die Vierte von Charles Ives und Beethovens Violinkonzert.
Wenn sich irgendjemand dem Hamburger Publikum nicht mehr vorzustellen braucht, ist es Kent Nagano. Dass er es dennoch tat, als er am Sonntagvormittag in der Elbphilharmonie vor das versammelte Philharmonische Staatsorchester trat, sorgte für Lacher, war aber weniger Koketterie als vielmehr diese Nagano-typisch leichte Art, zwischen Künstlern und Publikum ein Wir-Gefühl herzustellen.
Das war angesichts des Programms genau die richtige Idee. Die Vierte Sinfonie von Charles Ives, deren Besetzung die Bühne des Großen Saals auch unter Ausquartierung der Audi Jugendchorakademie in Block G beinahe zum Überlaufen brachte, ist das letzte große Orchesterwerk, das Ives vollendete, bevor er als Komponist verstummte. Sie blickt gleichsam aus der Vogelperspektive auf die ganz großen Fragen des Menschseins, und zwar aus einer genuin amerikanischen Vogelperspektive.
Gustav Mahler hätte seine Freude gehabt
Schon das Violinsolo des Konzertmeisters Konradin Seitzer im ersten Satz nahm Anleihen beim amerikanischen Volksliedton – aber wie Ives die Melodie vom Fernorchester in einen hauchzarten Schleier aus Harfen- und Streicherklängen hüllen ließ, wies weit über gängige Filmmusikklischees hinaus. Ein grell klingender Jahrmarkt war die folgende „Comedy“ in ihrer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Rhythmen und musikalischer Geschehnisse. Gustav Mahler hätte seine Freude gehabt.
In der „Fugue“ ließen die Musiker vor dem inneren Auge der Hörer die grandiosen Naturschönheiten von „God’s own country“ vorbeiziehen. Und das Finale führte die Anwesenden in überirdische Höhen. Chapeau, wie virtuos das Orchester Ives’ Klippen bewältigte und wie sicher es dessen Tonfall traf.
Viktoria Mullova überzeugt als Solistin
Einen ähnlich tiefen Eindruck hinterließ nach der Pause Viktoria Mullova als Solistin des Violinkonzerts von Beethoven. Ihre Interpretation war von beglückendem Eigenwillen, so sehnig wie ihre bloßen Oberarme, ohne jede Sentimentalität und gerade darin ein Bekenntnis. Der erdige, körperliche Klang ihrer Geige schien wie geschaffen für ihre Persönlichkeit.
Anders als bei Ives geriet der Orchesterpart bei Beethoven eher konventionell. Es gelang Nagano auch nicht immer, zwischen Tutti und Solistin zu vermitteln. Seltsam, dass derselbe Mann Hunderte von Beteiligten sicher durch die komplexesten Mammutwerke navigiert, die Musiker aber bei einem übersichtlichen Stück wie Beethovens Violinkonzert wiederholt rausbringt. Der Atmosphäre taten die paar Patzer keinen Abbruch. Am Ende verließ man den Großen Saal in dem Gefühl, bei etwas Wesentlichem, Außergewöhnlichem dabei gewesen zu sein.