Hamburg/Tiflis. Das Abendblatt begleitete das Hamburger Theater-Ensemble zum Gastspiel von „Das achte Leben (Für Brilka)“ in die Ex-Sowjetrepublik

    Es ist mitten in der Nacht, kurz nach drei Uhr, aber es ist voll auf dem Flughafen von Tiflis. Voll, drängelig und laut. So geht das hier jede Nacht, immerfort starten und landen die Flugzeuge, gerade ist die Maschine aus Moskau gekommen, Russen, Israelis, heimkehrende Georgier, am Ausgang stehen Männer und Frauen mit Abhol-Schildern, Busfahrer und Taxifahrer machen ihr Geschäft.

    Eine gute Geschichte ist immer auch eine Reise. In eine andere Zeit, manchmal in ein anderes Land, immer in ein anderes Leben. Diese Geschichte ist eine Reise in acht Leben, mindestens, eine literarische Reise und eine tatsächliche. Sie beginnt und sie endet in der Hauptstadt Georgiens, auf dem nächtlichen Flughafen von Tiflis – oder, wie die Georgier selbst es nennen: Tbilisi. In Tbilisi wurde die Hamburger Schriftstellerin Nino Haratischwili geboren, auch ihr 1300-Seiten-Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“, den sie vor vier Jahren veröffentlichte und den die Hamburger Regisseurin Jette Steckel in der vorvergangenen Saison in einer fulminanten Fünf-Stunden-Inszenierung auf die Bühne des Thalia-Theaters gebracht hat, ist so ein Trip.

    Wer es liest, dieses wahnsinnige, überbordende, ausufernde Buch, das ein ganzes unerbittliches Jahrhundert heraufbeschwört, der will nicht nur gedanklich, der will tatsächlich aufbrechen. Genau hierher. „Wenn der Osten einen einmal umarmt und festgehalten hat, wenn man sich einmal am Osten verschluckt hatte, dann blieb er!“, schreibt Haratischwili.

    Weniger Einwohner als in der Me­tropolregion Hamburg. Aber mehr Dramatik.

    Das ist durchaus buchstäblich zu verstehen: In diesem Herbst findet das Internationale Theaterfestival Tbilisi statt – und das Thalia Theater ist mit seiner Vorstellung des Haratischwili-Stückes eingeladen. Neun Schauspieler, der Thalia-Geschäftsführer und die Chefdramaturgin haben sich ebenso auf den Weg an den Kaukasus gemacht wie Techniker, Garderobieren, Videokünstler und 30 Mitglieder des Thalia-Freundeskreises. Sie sind die „Schlachtenbummler“ des Theaters, seine treuesten Zuschauer.

    Die Requisiten und Kulissen hat eine Spedition schon vor ein paar Tagen auf dem Landweg von Hamburg nach Tbilisi gebracht. Zwei Tonnen wiegt allein der riesige dunkelrote Teppich, der sich als einzige Kulisse während der Vorstellung langsam entrollt. Spezielle Kettenzüge für die Bühnenbedingungen des Tifliser Rustaweli-Theaters wurden vom Hamburger Schauspielhaus ausgeliehen.

    Rund 55.000 Euro kostet dieses Gastspiel, 55.000 Euro für einen einzigen Theaterabend. Das Auswärtige Amt in Deutschland hat ebenso geholfen wie das Goethe Institut und die Stiftung zur Förderung des Thalia Theaters. Und das staatlich finanzierte Festival Tbilisi, das innerhalb von drei Wochen 16 internationale Produktionen auf zahlreichen Hauptstadtbühnen zeigt, hat eigens für die Hamburger Produktion eine Sonderfinanzierung vom georgischen Kulturministerium bekommen.

    Ein Land, aus dem viele wunderbare Menschen stammen

    Der Sinn für die Dramatik also ist groß, das Land Georgien aber ist klein. „Mit Bergen und einer steinigen Küste am Schwarzen Meer. Die Küste ist zwar im Laufe des letzten Jahrhunderts um einiges geschrumpft, dank der großen Zahl an Bürgerkriegen, dämlichen politischen Entscheidungen, hasserfüllten Konflikten, aber ein schöner Teil davon ist noch da“, schreibt Nino Haratisch­wili lakonisch in „Das achte Leben“. Tiflis ist eine Stadt mit vielen Einbahnstraßen, manchmal muss man holprige Umwege in Kauf nehmen, um zum Ziel zu gelangen. Ein bisschen so ist es auch mit diesem Stoff, seiner Entstehung und dieser Aufführung: Eine Georgierin verlässt ihr Land, schreibt einen Roman über dessen Geschichte, schreibt ihn auf Deutsch, das Buch wird trotz des enormen Umfangs erst zum Bestseller, dann (wieder trotz des enormen Umfangs) zu einem erfolgreichen Theaterstück – und das wird (trotz des enormen Aufwands) nach Georgien eingeladen. Es ist auch eine unwahrscheinliche
    Reise.

    Einen Tag vor der Festivalpremiere sitzt die Schauspielerin Lisa Hagmeister in der Garderobe des Schota-Rustaweli-Theaters. Seinen Namen verdankt das Haus, das wie der geschichtsträchtige Boulevard davor heißt, dem Dichter des georgischen Nationalepos’ „Der Recke im Tigerfell“. „Was du verschenkst, hast du gewonnen, was du versteckst, hast du verloren“, zitiert ihn Nino Haratischwili in ihrem Roman.

    Lisa Hagmeister, die im Stück die Erzählerin Niza spielt, ist noch etwas müde von der nächtlichen Anreise; trotzdem müssen Soundcheck und technische Probe heute sein, ein Extratag ist im Budget nicht vorgesehen. Sie zieht die Knie an und lächelt. „Es war uns eine Herzensangelegenheit, das Stück nach Hause zu bringen“, sagt sie. Fast alle Schauspieler und die Regisseurin Jette Steckel waren bereits vor der Hamburger Premiere vor anderthalb Jahren für ein paar Tage gemeinsam in Georgien. Auf eigene Kosten. Sie haben den Leiter des Literaturinstituts getroffen, der ihnen von der Geschichte seines Landes erzählte, und das Geburtshaus von Stalin besucht. Sie waren in den Schwefelbädern der Altstadt, haben Chatschpuri gekostet, die mit salzigem Sulguni-Käse gebackenen Fladen, haben mit Walnüssen gefüllte Auberginen gegessen und die Brühe aus den dicken Teigtaschen Chinkali geschlürft.

    „Man hat auf diese Weise einen ganz anderen Start in das Stück“, findet Franziska Hartmann, die in der Produktion gleich mehrere große Rollen spielt. An einer Stelle spricht sie von den Bettlern „vor den Metroeingängen und Unterführungen“, auf dem Weg von der U-Bahn ins Rustaweli-Theater passiert man heute eben solche Szenen. Im vielleicht härtesten Moment des zwar sinnlichen, aber auch sehr fordernden Abends muss Franziska Hartmann als Mariam eine Abtreibung an einer nicht „parteikonformen“ Genossin erzwingen. „Das achte Leben“ verschweigt rein gar nichts, kein düsteres Kapitel, kein Regime wird ausgelassen. Und das 20. Jahrhundert ist wahrlich reich an düsteren Kapiteln. In Hamburg ist ein Zuschauer einmal während der Abtreibungsszene in Ohnmacht gefallen.

    „Es ist ein Land, aus dem außer den großen Henkern des 20. Jahrhunderts auch viele wunderbare Menschen stammen, (...) manche haben ihre großen Tage bereits hinter sich oder hoffen noch auf sie, aber die meisten kennt keiner“, schreibt Nino Haratischwili. Sie hingegen kennt nun fast jeder. In Deutschland ist sie eine Bestsellerautorin, ihr aktueller Roman könnte den diesjährigen Deutschen Buchpreis gewinnen, im Moment wirkt sie wie eine inoffizielle Außenministerin Georgiens. Dreharbeiten, Interviews, Eröffnung des Hamburger Harbour Front Literaturfestivals vor ein paar Wochen, Eröffnung der Frankfurter Buchmesse in wenigen Tagen. Georgien ist dort das Gastland. In Tbilisi ist Nino Haratischwili berühmt. Wenn „Das achte Leben (Für Brilka)“ im November auf Georgisch erscheint – gerade erst ist die Übersetzung fertig geworden – , dann wird sie noch ein bisschen berühmter sein. Mit wem man auch spricht, in Tbilisi oder unter den derzeit Deutschland bereisenden georgischen Autoren, man bekommt fast wortgleich immer wieder die dankbare Antwort: „Georgien wird endlich sichtbar.“

    Tom Till ist der kaufmännische Geschäftsführer des Thalia-Theaters. Er ist derjenige, der sich vor allem um die Finanzen kümmert, der ranghöchste Mann neben dem Intendanten. Er hat das Gastspiel verhandelt. „Eigentlich müssen wir als Theater Geld verdienen mit diesen Reisen“, erklärt er, während die Schauspieler zum Soundcheck auf die Bühne gerufen werden. „Hier verdienen wir aber nicht. Hier bekommen wir nur die Kosten wieder. Diese Reise war uns inhaltlich wichtig.“ Dünkel, das gilt auch für die Geschäftsleitung, sind auf einer Gastspielreise ohnehin fehl am Platze. Tütenweise schleppt Tom Till Trockenobst, Bananen, Nüsse und Schokoriegel zum improvisierten Büfett. Warm gegessen werden kann erst nach der Probe, irgendwann kurz vor Mitternacht. Da braucht es zwischendurch Energie- und Vitaminzufuhr. „Nicht die Melonen aufschneiden“, ruft jemand aus dem Hintergrund, „die gehören zur Requisite!“

    Das Schota-Rustaweli-Theater liegt etwa in der Mitte des Tifliser Rustaweli-Boulevards. Es ist groß und schön, voller Stuck und Pracht und Goldfarbe. Und es ist fast genauso alt wie die nun an ihren Ursprung zurückkehrende Geschichte. Gebaut wurde es von 1899 bis 1901. Stasia, die erste der acht Frauen in Haratischwilis Geschichte, wird im Jahr 1900 geboren.

    Die Georgier, so heißt es an einer Stelle im Roman, sind „ein Volk, das mit fremden Augen auf sich schaut“. Da hat sich Niza, die Erzählerin, schon durch zwei Weltkriege, eine Sowjetunion, unzählige Besatzungen, Bürgerkriege und immer wieder neues Blutvergießen, neuen Verrat, neue Tränen erzählt. Allein seit 1990 hat es in Georgien fünf Kriege gegeben, der letzte war erst 2008. Auch deshalb habe das Volk gelernt, im Heute zu leben. „Denn ob und wie der Morgen sein würde, war ungewiss.“

    Georgien, in dem sich so viele „Sichtbarkeit“ wünschen, ist ein Land des Dazwischen. Zwischen den Kriegen, zwischen den Besatzern. Zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne. Zwischen dem Hass auf Stalin, den Landsmann, und seinem Konterfei auf Kühlschrankmagneten. Zwischen machtvoller, georgisch-orthodoxer Religion und lässigem Hipstertum. Zwischen der Metechi-Kirche und der gläsernen Friedensbrücke. Zwischen grellgrüner, klebrig-bitterer Es­tragonlimonade, die wie süßer Hustensirup schmeckt, und Cappuccino to go, der sich von jenem in Ottensen, Amsterdam oder Barcelona nur dadurch unterscheidet, dass er billiger ist.

    Ein Volk also, das immer auch mit fremden Augen auf sich schaut. Es ist schwer, am Tag der Premiere nicht genau diesen Satz im Kopf zu haben. Da kommt ein Hamburger Theater und erzählt den Georgiern ihre eigene, hochkomplizierte Geschichte. Fünf Stunden lang. Auf Deutsch. Das hat, natürlich, auch etwas Anmaßendes.

    Zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn sitzt die Schauspielerin Karin Neuhäuser mit ihrem Textbuch auf einer Bank vor dem Theater. Auch sie war schon auf der ersten Georgien-Reise des Ensembles dabei. „Es war beeindruckend. Man kann sich plötzlich vorstellen, für was die hier gekämpft haben“, sagt sie mit dunkler, kratziger Stimme. Hinter ihr rauscht der nie abreißende Verkehr über den Rustaweli-Boulevard, vor ihr hetzen die Passanten vorbei. Wie man sich da auf den Text konzentrieren kann? „Das ist eine Bereicherung. Hier um die Ecke ist ja alles passiert.“ Es ist nicht nur Textlernen. Es ist auch eine Infusion georgischer Realität.

    Nino Haratischwili steht hinter der Bühne. Schwarzes Kleid, tiefroter Lippenstift, das dunkle Haar straff zurückgebunden. Sie zieht an der Zigarette und wirft sie halb geraucht in den Aschenbecher – nur um sich direkt die nächste anzuzünden. „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott.“ Die Anspannung ist groß, vor allem bei ihr. Ununterbrochen wechselt Nino (wie viele Georgierinnen nach der Heiligen Nino benannt, die das Land einst christianisiert hat) von einem Fuß auf den anderen. „Ich kann nicht mehr“, schnauft sie und zupft am Kleid. „Und wenn in der Vorstellung auch nur ein Handy klingt, reiße ich es demjenigen höchstpersönlich aus der Hand!“ Man zweifelt keine Sekunde an dieser Drohung.

    Georgien, das Land mit dem Talent für Dramatik. Wie zum Beweis verdunkelt sich nur Minuten vor Vorstellungsbeginn der Himmel, ein plötzlicher Regenguss scheucht die letzten Zuschauer ins Foyer. Das Theater füllt sich, seit August schon ist die einzige Vorstellung ausverkauft. Die Freundeskreis-Mitglieder des Thalia Theaters suchen ihre Plätze, georgische Schauspieler und Theaterkritiker sind gekommen, die Festivaldirektorin begrüßt den deutschen Botschafter, er ist erst seit zehn Tagen im Amt. Die auf die Karten gedruckte Anfangszeit scheint bloß ein Richtwert zu sein – die Vorstellung beginnt mit Verspätung. Nino Haratischwili setzt sich in die erste Reihe.

    Und dann geht es los

    Das russische Reich, die kurze Unabhängigkeit, die Faschisten und die Sowjetunion. Eine Familie, über der ein Fluch zu liegen scheint. Das Handy reißt Nino niemandem aus der Hand, obwohl es immerzu irgendwo leuchtet oder piepst. Doch es wird weniger. Die Aufmärsche und Kriege, die Träume und Sehnsüchte. Es ist ein bildmächtiges Stück, das Jette Steckel aus dem Roman gemacht hat, ohne Angst vor Emotion und Pathos.

    Immer stiller werden die Zuschauer, immer gebannter blicken sie auf ihre eigene Vergangenheit, die das Ensemble über fünf Generationen und 13 Staatsoberhäupter erzählt, während der blutrote Teppich sich langsam ausrollt. Der Widerstand und die Fahnentreue, die Erinnerung, der Schmerz. Der georgische Filmemacher Zaza Rusadze hat dem Stück historische Originalaufnahmen beigefügt. Als die Bilder der mit Spaten erschlagenen Demonstranten vom April 1989 über die Bühne flackern, bewegt sich im Parkett niemand mehr. Zu nah sind diese Bilder, diese Toten. Zu real. Die Intensität des Moments ist fast unwirklich. Die friedliche Demons­tration, auf der die Russen damals auch Giftgas einsetzten, fand direkt vor den Toren des Theaters statt, auf dem Rustaweli-Boulevard.

    Die Schauspieler fallen einander in die Arme

    Unkontrolliert schlingert ein Scheinwerfer, der georgische Beleuchter ist im Rang umgekippt. „Die Hitze“, heißt es später. Vielleicht auch die Wucht des Gebotenen.

    Als die letzten Worte verklungen sind und der Schauspieler Mirko Kreibich in der Titelrolle noch selbstvergessen über die Bühne tanzt, bricht bereits der Applaus los. Als der Vorhang beginnt, sich nach mehr als fünf Stunden langsam zu schließen, springen die Zuschauer auf. Im Parkett, in den Logen, in den Rängen. Alle. Manche wischen mit dem Ärmel über zerlaufene Wimperntusche, immer und immer wieder klatscht das Publikum die Schauspieler nach vorn. Als Nino Haratischwili aus der ersten Reihe auf die Bühne geholt wird, schwillt der Jubel noch einmal an.

    Hinter der Bühne fallen die Schauspieler einander in die Arme, Besucher strömen dazu, Freunde und Verwandte von Nino Haratischwili, Tom Till nickt und strahlt und ballt die Hand zur Faust, Jette Steckel drückt und herzt. Nino Haratischwili lacht ihr helles Lachen, „Erleichterung“, ruft sie immer wieder und kann erneut kaum stillhalten, es sieht fast aus, als würde sie, direkt hier auf der Hinterbühne, anfangen wollen zu tanzen. „Erleichterung!“

    Vor dem Theater stehen georgische Kamerateams und führen Interviews. Die vorbeirasenden Autos hupen. Der Thalia-Fanclub steigt in den Bus, die georgische Reiseleiterin, die ebenfalls in der Vorstellung war, greift zum Mikro und sagt, noch immer sichtlich bewegt: „Das alles, was ihr da eben gesehen habt, das habe ich ja auch ... das habe ich ja auch überlebt.“

    Es ist weit nach Mitternacht. In wenigen Stunden schon geht wieder der Flieger. Der Rustaweli-Boulevard, der so viele Geschichten und so viel Geschichte erlebt hat, glänzt vom Regen.