Hamburg. Der 23-jährige Amerikaner Christopher Evans tanzt vom 9. September an in den „Bernstein Dances“ in der Staatsoper.

Die Bühne der Hamburgischen Staatsoper wirkt nackt an diesem Vormittag. Leer ist sie nicht, Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts dehnen und strecken sich, vollführen Sprünge. Christopher Evans und Emilie Mazon proben im Vordergrund einen Pas de deux mit vielen komplizierten Hebefiguren. Jede Geste, jede Wendung muss sitzen. John Neumeier, Chef des Hamburg Balletts, verändert vom Regiepult aus Nuancen der Bewegung. Die Atmosphäre ist entspannt. Dabei hat die Kompanie gerade mal gut drei Wochen Zeit bis zur Wiederaufnahme der „Bernstein Dances“, die die Ballettsaison am 9. September einläuten wird.

Minuten nach der Probe wirft sich Christopher Evans ein neues T-Shirt über seinen schmalen, durchtrainierten Körper. Etliche davon schwitzt er im Laufe einer Probe durch. An den Füßen trägt er spezielle Schuhe, die seine Muskeln warm halten sollen. Am Premierenabend wird er das legere Trainingskostüm wie alle Mitwirkenden gegen den feinen Zwirn des italienischen Modedesigners Giorgio Armani eintauschen.

Für den 23-Jährigen ist die Wiederaufnahme der „Bernstein Dances“ ein wichtiges Datum. Er tanzt in der Revue die Hauptrolle als „Mann I“. Es ist sein erster Auftritt nach der Berufung in die Edelkategorie der Ersten Solisten der international renommierten Kompanie.

Hohe Ehre

„Die Beförderung ist eine hohe Ehre für mich. Manche denken, ich könnte jetzt entspannen, aber ich muss noch härter arbeiten, um mich zu verbessern“, sagt er und lacht. Einem wie ihm fällt das leicht. „Ich bin einfach glücklich, wenn ich tanze.“ Dieses Glück ist Evans, der auf der Bühne natürliche Eleganz und schwerelose Hingabe ent­faltet, so sehr anzusehen, dass er sein Publikum einfach mitreißt.

Die Wiederaufnahme steht im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag des großen amerikanischen Dirigenten, Komponisten und genialen Musiklehrers Leonard Bernstein, mit dem John Neumeier eine enge Freundschaft verband. Die Revue ist inspiriert von seiner Musik und von „seinem Geist“. Der Abend hat episodischen Charakter. Er erzählt Begebenheiten und Wendepunkte aus dem Leben Bernsteins, von Erfolgen – aber auch von Selbstzweifeln.

Wiederaufnahme

Später bei der Probe geht es um „Die Stadt der Städte“, gemeint ist natürlich New York, mit Songs aus Bernsteins Musical-Comedy „Wonderful Town“. In „What A Waste“ klagt ein Sänger über all die Glückssucher, die in den Big Apple strömen, und fragt Evans, der mit einem Koffer in der Hand und dem Herzen voller Ideen auf der Bühne steht, warum er seine Heimatstadt Ohio verlassen habe. „Weil ich glaube, dass ich Talent habe“, antwortet der voller Enthusiasmus.

Wichtige Begegnungen

In diese Szene könne er sich besonders gut hineinversetzen, sagt Evans. Sie erinnere ihn an seine Kindheit mit Mutter, Bruder und Schwester. „Ich komme ja selbst aus Ohio.“ Seinen Vater, ein Angehöriger der Sioux, hat er nie kennengelernt. In Ohio besuchte der dreijährige Christopher ausgerechnet die irische Tanzshow „Riverdance“ und war vom Hauptdarsteller derart gefesselt, dass er fortan durchs Wohnzimmer sprang und seine Mutter mit der Ansage überraschte: „Ich will tanzen.“

Die nächsten Stationen: Ausbildung an der BalletMet Dance Academy, an Canada’s National Ballet School. 2010 gewann er den Wettbewerb Prix de Lausanne und wechselte zur Ballettschule des Hamburg Balletts. 2012 wurde er Teil der Kompanie. Von 2015 an begeisterte er als Solist unter anderem in „Turangalîla“. Zur Vorbereitung auf die Wiederaufnahme hat Evans im Sommer eine Biografie über Leonard Bernstein gelesen und war von der Künstlerpersönlichkeit fasziniert. „Das Ballett, in dem ich Bernstein repräsentiere, spiegelt wichtige Begegnungen und einzelne Aspekte seines Lebens“, erzählt er. Und der habe doch einiges durchgemacht.

Besetzung ist neu

Die gesamte Besetzung ist neu. Und es ist schon berührend, Lloyd Riggins, der seinerzeit in der Urfassung tanzte, dabei zuzusehen, wie er Christopher Evans in die einzelnen Bewegungen der Choreografie einweist. „Auch die drei Ballettmeister waren Tänzer in der Uraufführung, bringen ihr Wissen ein und reichen es an die nächste Generation weiter“, so Evans.

Weil aber die Kunst immer ein lebendiges Gebilde ist, hat sich auch diese Choreografie im Laufe der Zeit gewandelt; die Wiederaufnahme wird kleine Veränderungen und Verbesserungen enthalten, die wahrscheinlich nur bemerkt, wer das Original von 1998 sehr gut kennt.

Bis zum Premierenabend folgt Christopher Evans’ Leben einem sehr einfachen Rhythmus: Der besteht aus essen, schlafen, tanzen. Und am Ende eines langen Probentages gibt es vielleicht ein schönes Feierabendbier. Ein großer Tänzer, der unbedingt ins Rampenlicht gehört; das Hamburger Publikum darf sich auf die „Bernstein Dances“ freuen.