Hamburg. Der Intendant der Symphoniker Hamburg, Daniel Kühnel, über ein Bach-Projekt in Görlitz in Zeiten fremdenfeindlicher Übergriffe.

Bis zum 4. September sind Mitglieder der Symphoniker Hamburg im sächsischen Görlitz, um gemeinsam mit der dort angesiedelten EuropaChorAkademie und Stipendiaten aus zahlreichen europäischen Ländern die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach zu proben und aufzuführen. „In politisch schwierigen Zeiten treffen sich Nachwuchsmusiker aus der ganzen Union zum gemeinsamen Arbeiten in der geografischen Mitte Europas“, kündigen die Symphoniker dieses Projekt an, das kurz nach den jüngsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen im sächsischen Chemnitz stattfindet. Ein Gespräch über diese besonderen Umstände mit Intendant Daniel Kühnel.

Herr Kühnel, fahren Sie nach den Ereignissen in Chemnitz mit anderen Gefühlen nach Sachsen als sonst?

Daniel Kühnel: Mit Verlaub, Ihre Frage klingt ein wenig so, als sei Sachsen jetzt eine No-go-Area. Das ist natürlich nicht der Fall. Die Symphoniker Hamburg machen Musik und reflektieren ihre Arbeit, und zwar an allen Orten dieser Welt überaus gern. Dass ich persönlich von den Ereignissen der vergangenen Tage erschüttert bin, will ich keineswegs leugnen. Aber dies ist mir nur noch mehr Motivation für die Reise nach Sachsen.

Ist die Sicherheitslage in Sachsen Thema in Ihrem Orchester oder bei den eingeladenen Musikern aus anderen europäischen Ländern?

Kühnel: Ausdrücklich nein. Wir kommen in Görlitz – also ziemlich genau in der exakten Mitte Europas – zusammen, um Bachs Johannes-Passion mit zahlreichen jungen Menschen zu erarbeiten, um uns die Hintergründe dieses zentralen Werks zu erschließen und um vielleicht Antworten auf Fragen wie diese zu finden: Wie können wir Bach heute verstehen? Wie machen wir ihn zu „unserem Bach? Was hat die Passion beispielsweise mit Coventry 1940, Dresden 1945 und heutigen Migrationsbewegungen zu tun? Es passt ganz einfach nicht in mein Weltbild, mir vorzustellen, dass wir dies aus irgendwelchen Gründen nicht mehr tun dürften.

Fühlt man als Künstler eine besondere Verantwortung, gerade jetzt nach Sachsen zu reisen?

Kühnel: Ein Künstler sollte immer Verantwortung fühlen, egal wohin er fährt. Die Symphoniker Hamburg verstehen ihre Arbeit nie losgelöst von ihrem Umfeld. Wenn man ein Konzert als eine öffentliche Handlung begreift – und etwas anderes kann es ja eigentlich gar nicht sein –, dann hinterlassen die Erfahrungen und aktuellen Erlebnisse aller Beteiligten, auch des Publikums, Spuren. Ein Konzert am 3. September in Görlitz ist deshalb ein wesentlich anderes als eines am 11. September in Hamburg. Zugleich verändert das Konzert jedoch auch die Umwelt. Auf eine immaterielle und kaum klar definierbare Weise, aber nachhaltig. Davon sind wir überzeugt.

Was kann Musik und speziell dieses europäische Projekt leisten? Kann sie im Fall der Johannes-Passion Antworten auf aktuelle Fragen geben?

Kühnel: Diese Fragen beschäftigen uns und die EuropaChorAkademie Görlitz jeden Tag. Ich freue mich wirklich sehr auf das spannende, weil sehr offene Projekt mit diesem unvergleichlichen und bis heute absolut gültigen Werk. Die zwei Gesprächskonzerte finden übrigens im Europäischen Zentrum des Stalag VIII A statt: ein Ort, der uns an sein ehemaliges Kriegsgefangenenlager erinnert, in welchem Olivier Messiaen sein Werk „Quatuor pour la fin du temps“ 1941 vollendete und uraufführte. Unmöglich, dass dieser Ort nicht Einfluss auf unsere Arbeit nehmen wird. In einer Woche kann ich sagen, welchen aktuellen Fragen wir dadurch nähergekommen sind.

Infos zum Johannes-Passion-Projekt: www.symphonikerhamburg.de