Hamburg. Die musikalische Lesung in der Elbphilharmonie hatte es in sich: Ferdinand von Schirach verriet sogar ein persönliches Geheimnis.

Zur Tat schreiten ein berühmter Schriftsteller und ein Pianist. Tatort: Großer Saal der Elbphilharmonie. Tatzeit: 20 Uhr. Der Pianist trägt eine zu große Schirmmütze auf dem Kopf, die sein Gesicht halb verdeckt und bestimmt ein Markenzeichen ist. Er spielt ein selbst komponiertes Lied. Dann kommt der Autor auf die Bühne. Er hat einen schwarzen Smoking an, weißes Hemd, dunkle Fliege. Er stellt sich an ein Stehpult und beginnt zu lesen. Seine nüchterne Prosa scheint sich in sein Gesicht gegraben zu haben.

Es ist auf den ersten Blick ein sehr ungleiches Paar, das dort auf der Bühne mit Tönen und Texten die 2100 Besucher im ausverkauften Großen Saal im besten Wortsinn unterhält. Hier der eloquente und gefeierte internationale Bestsellerautor, dessen Bücher und Theaterstücke die Menschen auf der ganzen Welt bewegen. Dort der eher sprachlose deutsch-amerikanisch-persische Musiker, der sich den ganzen Abend lang hinter seinem Instrument vergräbt und erst zum Schlussapplaus aus dem Schatten ins Licht tritt.

Kowalski ist kein Virtuose, aber er übersetzt die Sprache in Töne

Malakoff Kowalski, als Sohn iranischer Eltern vor 39 Jahren in Boston geboren, ist ein behutsamer Klängefahnder und alles andere als ein Klaviervirtuose. Keine wilden Ritte auf dem Flügel, keine rasanten Tänze auf den Tasten. Eher ein bedächtiger Atmosphärensucher auf dem Piano, dem man zugutehalten kann, dass er die skelettierte Sprache seines Bühnenpartners eins zu eins in Töne übersetzt.

Kowalski, der als seine musikalischen Einflüsse David Bowie, Led Zeppelin, Franz Schubert und Johannes Brahms nennt und auch Filmmusik komponiert, kommt an diesem Abend mit wenig aus. Er vertont die Monotonie. Seine Finger wandern sehr bedächtig über die Tasten auf der Suche nach musikalischen Themen, die er dann gerne wiederholt und nochmal wiederholt, manchmal eine Oktave tiefer, manchmal eine Oktave höher, oft mit kleinen Variationen der rechten Hand, bevor er die sparsamen Figuren auflöst und auf die Suche nach neuen Tönen geht. Diese melancholischen Fingerübungen nennt er „My first Piano“ und „Kompositionen an der Grenze zwischen Klassik und Jazz“. Das ist schlau.

Ferdinand von Schirach ist sicherlich derjenige, der die Menschen in diesen grandiosen Konzertsaal gelockt hat. Deswegen darf er wohl auch die Begrüßung übernehmen und schickt gleich vorweg, dass es bei der Kunst nur um eines geht: „Berührt uns die Musik oder die Literatur.“

Ferdinand von Schirach hat auch Kritiker

Dann sagt er noch, dass Schriftsteller als Erstes immer gefragt würden: Warum schreiben Sie? „Als ich die Frage das erste Mal hörte, dachte ich noch, das sei ein Vorwurf.“ Gerade hat er mit „Strafe“ seinen dritten und letzten Band in der Fallgeschichten-Trilogie „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) veröffentlicht. Er liest daraus die letzte der zwölf Geschichten. „Neben ,Cello‘ meine persönlichste.“

Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe, ist einer der wenigen Rezensenten, die sich den Lobreden auf von Schirachs neues Werk polternd entgegenstellten. „Strafe“ sei mörderisch triviale Gebrauchsliteratur. „Schirach ist weit weg von der Kunst, die ihm angedichtet wird.“ Das ist jetzt kein Verbrechen, aber ziemlich bösartig.

Dem international gefeierten Bestsellerautor, der bis zu seinem 45. Lebensjahr als Strafverteidiger gearbeitet hat, wird das zu Recht egal sein. Seine Bücher erscheinen in 40 Ländern, sein Theaterstück „Terror“ ist bisher in elf Ländern und alleine in Deutschland 1110-mal aufgeführt worden. Sein Kurzgeschichtenband „Verbrechen“ wurde in Japan nach „Der Name der Rose“ auf Platz zwei der 100 besten Krimis aller Zeiten gewählt.

Die Sprache ist präzise, schonungslos, kalt

Das liegt natürlich auch an seiner Sprache. Schonungslos, präzise, kalt. Also erklingen auch in der Elbphilharmonie plötzlich ganz neue Töne. „Jetzt lag der Verkäufer vor ihm auf dem Boden und ein Stück Hals fehlte.“ Und nach der Massenvergewaltigung bei einem Volksfest von den „ordentlichen Männern“ lag das Mädchen nackt da. „Nass von Sperma, nass von Urin.“

Es ist meist nicht schön, was in Schirachs Geschichten zum Vorschein kommt. Er erzählt uns, wozu Menschen fähig sind. Und belässt es dabei. Er liest, wie er schreibt. Kühl und distanziert. Gleich am Anfang hatte Ferdinand von Schirach, der sein Privatleben nicht öffentlich macht, dem andächtig lauschenden Publikum doch ein bisschen von seinem Seelenleben mitgeteilt. „Künstlern ist die Welt fremd“, hat er gesagt. Und von Unsicherheiten gesprochen, die oft nicht sichtbar sind. „Wir scheitern an uns selbst, und wir werden nie die, die wir sein wollten.“ Und erst sehr spät begreife man, dass es keine Antworten gibt. „Es gab sie noch nie.“