Salzburg. Mal kurz ins Mozarteum oder zu den Rossini-Proben – was Hamburgs Generalmusikdirektor bei den Festspielen erlebt, wie er arbeitet.
Mittwochmorgen, halb zehn, mitten in Salzburg. Markus Hinterhäuser muss für einen Auftritt noch schnell eine Runde Klavier üben. Die Altstadt macht sich touristenfertig und auf der Staatsbrücke über der Salzach kommt einem schon der Intendant der wichtigsten Festspiele der Welt entgegen, der nicht nur plant und lenkt, sondern dort auch selbst mitwirkt. So ist das hier, seit der Gründung vor fast 100 Jahren, mit der Kultur. Grundnahrung, Suchtmittel und Pflichtstoff, wie der gute Kaffee und die noch besseren Mehlspeisen. Irgendwer probt, singt, spielt immer. Nach höchstens zehn Minuten begegnet man entweder Künstlern, Intendanten, Managern oder Kritikern.
In diesem Festival-Sommer ist auch Kent Nagano wieder da. Mit seinem anderen Orchester, dem aus Montréal, hat Hamburgs Generalmusikdirektor Ende Juli zum zweiten Mal in Folge den „Ouverture spirituelle“-Prolog der Festspiele eröffnet. Seitdem ist er in der Stadt. Auf die Frage, was mit seinen Sommerferien sei, antwortet er amüsiert, es käme darauf an, wie man Sommerferien definiert. „Arbeit“ ist hier für die zu Hunderten anreisenden Künstler alles und doch auch relativ.
Wie kam das mit ihm und Salzburg?
Bei der Neuproduktion von Henzes Antiken-Drama „Die Bassariden“ steht Nagano am Pult, aber vor den Wiener Philharmonikern; die Premiere ist die letzte der fünf Opern-Neuinszenierungen in dieser Saison und die erste Salzburger Aufführung seit der Uraufführung 1966 (auch damals dirigierte eine Hamburger Pultgröße: Christoph von Dohnànyi). Einquartiert hat Nagano sich etwas außerhalb, in einem Haus im Grünen. Die Arbeitsbedingungen sind so speziell wie effektiv. Rund sieben Wochen Vorbereitungszeit, etwa zwei mehr als für eine Hamburger Opernpremiere. Die erste Proberunde fand zum Eingewöhnen auf der Bühne der Felsenreitschule statt, danach ging es in die Messehallen. Den finalen Schliff gab es dann wieder im Festspielbezirk.
Wie das kam, das mit ihm, Salzburg und Henze? Wie es eben so läuft, wenn sich Musiker über ihre Ideen unterhalten. „Das war eher eine Konversation“, erläutert Nagano. Jeder Salzburger Intendant sei da etwas anders. „Markus Hinterhäuser ist ein Musiker, er denkt wie ein Musiker.“ Als von ihm die Anfrage kam, sagte Nagano zu; als der Intendant den Regisseur Krzysztof Warlikowski vorschlug, der noch nichts in Salzburg gemacht hatte, fand Nagano auch das fein. Er und Warlikoswki hatten 2007 in München Tschaikowskys „Eugen Onegin“ erarbeitet. „Und dann ist das alles zusammengekommen.“
Oder mal eben ins Mozarteum
Gibt es während und neben der eigenen Arbeit noch Gelegenheiten für anderes und andere? „Natürlich! Das macht Salzburg so wunderbar. Man kann überall hineinhören, was passiert.“ Die „Bassariden“-Proben liefen oft parallel zu Rossini-Proben mit Cecilia Bartoli, „ich bin da in jeder Pause rübergegangen“. Oder mal eben ins Mozarteum, zum Einspielen des Pianisten András Schiff. Von der sensationellen „Salome“ hat Nagano die Generalprobe besucht; neulich, bei Riccardo Mutis Konzert, begegneten sich hinterher zufällig die Dirigenten Nagano, Muti und Maris Jansons. Klassik-Klassentreffen. Die Musikwelt passt bei diesen Festspielen spielend in zwei Stadtviertel.
Während der Zeit an der Münchner Staatsoper hatte Nagano in Salzburg keine Opern leiten können, nur Konzerte, weil Münchens Opernfestspiele im Juli sich mit den Probenphasen in Salzburg überschnitten. Inzwischen harmoniert es wieder mit dem Kalender von Nagano, der hier einige Spezialitäten dirigiert hatte, allen voran Messiaens monumentale Oper „Saint François d’Assise“. Gibt es Pläne für die kommenden Sommer? „Es gibt nur Diskussionen.“
Ähnlich wenig sagend antwortet er auf die Anmerkung, dass sich die Hamburger Philharmoniker doch garantiert über eine Einladung freuen würden. „Das wäre sehr schön. Wir hoffen …“ Lächeln. „Das Schöne an Markus Hinterhäuser ist: Seine Tür ist immer offen für neue Ideen.“ Außerdem ist Salzburg für jemanden in Naganos leitender Position auch ein reich gedecktes Künstler-Büfett. Wenn die Staatsopern-Kollegen aus dem Urlaub zurückkommen, finden sie „eine Tonne Mails“, mit Vorschlägen, diesen oder jenen Kandidaten für eine Opern-Rolle oder einen Solopart im Konzertbetrieb unter die Casting-Lupe zu nehmen.
Gespräche über die Elbphilharmonie
Es gab Zeiten, in denen die Salzburger Festspiele fest in Hamburger Hand waren: Frank Baumbauer, Jürgen Flimm und Peter Ruzicka hatten Führungspositionen. Das ist vorbei, neu erwacht ist das heftige Interesse an der Musikstadt Hamburg. Auf die Elbphilharmonie werde er hier sehr regelmäßig angesprochen, sagt Nagano. „Jeder kennt sie, alle wollen dort spielen und Konzerte hören.“ Und Karten, klar, wollen sie außerdem. Einige Wünsche, immerhin, habe er erfüllt. „Als adoptierter Hamburger bin ich ganz stolz. Es ist sehr wichtig, dass die Leute jetzt sofort den Eindruck haben: Da lebt die Kultur.“
Am nächsten Morgen, im Direktoriumsbüro von Markus Hinterhäuser, der vom Plausch mit Daniel Barenboim kommt und zur Festspiel-Halbzeit trotz eines „beträchtlichen Schlafdefizits“ nach drei von fünf Festspielwochen recht wach wirkt. Neben seinem Aschenbecher steht ein Konfekt-Teller, aber nicht mit den erwartbaren Mozartkugeln, sondern mit: Bachwürfeln. „Absicht …“, amüsiert sich Hinterhäuser, bevor er die Nagano-Wiedereinbindung erklärt: mit „großer Bewunderung und Sympathie“.
Schon in den 1990er-Jahren hatte Hinterhäuser ihn mit vielen komplexen Stücken hier gehört. „Das war immer extrem beeindruckend, mit welcher Gelassenheit und Kenntnis er diese großen Partituren bewältigt, welchen Überblick er über diese Landschaften hat. Und es gibt etwas, das glüht, wenn er sie dirigiert.“ Auf die Zukunft angesprochen, orakelt auch er. „Er wird wiederkommen.“ Angesprochen auf das Erfolgsgeheimnis von Salzburg, erzählt er von der Sopranistin Asmik Grigorian, der aktuellen Super-Salome, die begeistert zu dieser Herausforderung sagte, sie sei so dankbar, denn „in Salzburg wird man besser“.
Wie bei Ingo Metzmacher
Am Abend, einige Stunden später, wird in der Felsenreitschule klar hörbar, wie recht der Intendant mit seiner Einschätzung von Naganos Qualitäten hat. Henzes „Bassariden“ ist ein furchterregendes Extrabreitwand-Stück: der Orchestergraben randvoll mit den Wienern, dazu eine Schlagzeug-Kolonie in einer Empore. Maßarbeit für diesen irren Raum. Für die blutig endende Geschichte im alten Theben hat sich Warlikowski ein vierfach portioniertes Raum-Panorama bauen lassen.
All das erinnert stark an Naganos Hamburger Vorvorgänger Ingo Metzmacher, der hier 2009 mit der Regisseurin Katie Mitchell „Al gran sole carico d’amore“ von Luigi Nono realisierte. Und von Anfang an zeigt sich, dass Nagano als Mann fürs Große eine bestechend richtige Wahl war. Er hält – präzise wie zuletzt bei Jörg Widmanns „ARCHE“-Oratorium zur Elbphilharmonie-Eröffnung – von seinem Leitstand aus alles stramm und konkret zusammen, da können Solisten und der erstklassig agierende Wiener Staatsopernchor noch so weit entfernt sein.
Und während sich diese Musik mit der henzetypischen Mischung aus scharfkantiger Pracht und melodiesehnsüchtiger Lieblichkeit abspult und erfreulich ungehörig daherkommt, erzählt Warlikowski von einer sich selbst zerlegenden Welt. Von einer Gesellschaft, die der Droge des unwiderstehlichen Einflüsterers Dionysos verfällt, bis alle Moral- und Schamgrenzen fallen und einer tot ist: der frisch ernannte König Pentheus (Russell Braun singt ihn mit der Macht der Verzweiflung). Nicht nur entmachtet, sondern auch entleibt, in Stücke gehackt von seiner Mutter Agave (exaltiert dramatisch: Tanja Ariane Baumgartner), die ihn im dionysischen Rausch nicht mehr erkannte.
Es fällt schwer, beim geschmeidig hinreißenden Sirenengesang des US-Tenors Sean Panikkar nicht an einen der modernen Politik-Populisten zu denken, der aus dem Nichts kommt und das Blaue vom Himmel verspricht. Dieser Verführer tänzelt in vermeintlichem Unschuldsweiß durch die Kulissen, mit einer akrobatischen Nachtclubtänzerin an seiner Seite, die Playmate-Verkörperung seines Lustprinzips. Das Volk, die Bassariden, sind sofort buchstäblich hin und weg. Kaum hören sie Dionysos’ Stimme, drehen sie durch, tanzen wie wild und verlieren sich liebend gern an ihn. Die alte Ordnung, verkörpert durch das sonore Bassbariton-Dröhnen von Willard White als Thebens Gründer Cadmus, hat keine Chance.
Musik als Dauerauftrag
Pentheus’ Kampf gegen die göttliche Übermacht wird von Warlikowski mit mitunter beherztem Griff zum pornösen Klischee bebildert. Insbesondere das erotisch aufgeheizte Intermezzo, in dem alle mit allen, wirkt wie ein Fetisch-Fotoshooting. Später zaubert Nagano so druckvollen Groove aus der Partitur, als würde man Bernsteins „Mambo“ aus der „West Side Story“ durch ein Avantgarde-Kaleidoskop schieben. Die Wiener Philharmoniker führen ihre Sonderklasse beim Umgang mit Höchstschwierigkeiten vor.
Nach großem, aber auch nicht ausuferndem Beifall geht es in den späten Restabend, zur ersten Premierenkritik auf einen Absacker ins Pflicht-Lokal Triangel gegenüber. Der „Jedermann“ mit dem für Tobias Moretti steil eingesprungenen Thalia-Schauspieler Philipp Hochmair, nur eine Bühne weiter, ist auch gerade vorbei.
Kent Nagano hat hier noch drei weitere „Bassariden“. Die letzte Aufführung findet Ende nächster Woche statt, am Sonntag nach dem Open-Air-Konzert der Philharmoniker auf dem Hamburger Rathausmarkt. Die Musik als Dauerauftrag hat ihn wieder.
Kent Nagano und Salzburg
Hamburgs Generalmusikdirektor hat in diesem Juli die „Ouverture spirituelle“ eröffnet. Es spielte das Orchestre symphonique de Montréal“, dessen Chefdirigent er seit 2006 ist. Naganos Verbindung mit den Salzburger Festspielen ist lang, u. a. dirigierte er 1994 Strawinskys „Oedipus Rex“ und 2000 die Uraufführung von Saariahos „ L’amour de loin“. 2017 war Nagano u. a. mit Messiaens „La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ“ zu hören.