Hamburg. Mit der Hamburgerin Nino Haratischwili, Maxim Biller und Helene Hegemann sind etliche namhafte Autoren nominiert.
Was an Longlist zum Deutschen Buchpreis als Erstes auffällt? Es stehen ein Dutzend Autorinnen drauf. So viel wie noch nie; es gab Longlists, auf denen nur vier Autorinnen für die seit 2005 vergebene Auszeichnung nominiert waren. Überhaupt ist es das allererste Mal, dass die Frauen in der Überzahl sind.
Vergeben wird der Deutsche Buchpreis am 8. Oktober im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse. Er ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert und eine der renommiertesten Literaturauszeichnungen im deutschsprachigen Raum. Weshalb auch ohne Lektürearbeit immer der Blick auf die Schwerpunkte lohnt, die die in jedem Jahr anders besetzte Jury setzt. Um Proporz geht es zumindest offiziell nie, sondern um literarische Qualität, aber auch um Vorlieben. Über Geschmacksentscheidungen lässt sich streiten oder eben nicht; vorerst bleibt vor allem aber die Methode des Abzählens, nach der sich manches sagen lässt über ein Literaturjahr oder darüber, wie eine Jury dieses sieht.
Zwölf Autorinnen also, acht Autoren. Und: immerhin fünf Bewerber, die nicht im deutschen Sprachraum geboren sind. Dies sind Maxim Biller, der 1960 in Prag zur Welt kam, Christina Viragh (1953, Budapest, „Eine dieser Nächte“), Nino Haratischwili (1983, Tiflis, Georgien), Carmen-Francesca Banciu (1955, Lipova/Rumänien, „Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten!“) und María Cecilia Barbetta (1972, Buenos Aires, „Nachtleuchten“). Schöner könnte man den literarischen Zuzug in die deutsche Sprache nicht dokumentieren.
Wobei gerade Biller, der polarisierende Kolumnist und Schriftsteller aus Berlin, ein prima Zugpferd für den Buchpreis-Jahrgang 2018 ist. Es trifft sich gut, dass sein Roman „Sechs Koffer“, der von einer Kultur des Misstrauens innerhalb einer Familie berichtet, in der der Patriarch einst vom KGB hingerichtet wurde und sich die Hinterbliebenen leidenschaftlich gegenseitig des Verrats verdächtigen, auch noch gelungen ist. Existenzielle Schwere, nicht ohne Witz, auf lediglich 200 Seiten.
Was den Umfang angeht, ist Nino Haratischwilis Tschetschenienkrieg-Epos „Die Katze und der General“ ein anderes Kaliber. Auf 750 Seiten erzählt der Roman von einem Kriegsverbrechen, das nicht vergessen wird. Schuld vergeht nicht, und ein Verbrechen wird nicht erst seit Dostojewski in irgendeiner Weise gesühnt. Haratischwilis voluminöses Georgienbuch „Das achte Leben (Für Brilka)“ war 2014 Buchpreis-mäßig übergangen worden, umso wichtiger, dass „Die Katze und der General“ nun nominiert ist.
Anders als Haratischwili lebt Anja Kampmann heute nicht mehr in Hamburg, ihrer Geburtsstadt. Ihr kunstvoller Wanderarbeiterroman „Wie hoch die Wasser steigen“ ist genauso wie Matthias Senkels formal tollkühne Sozialismus-Erinnerung „Dunkle Zahlen“ bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr in einer preislichen Vorentscheidungsrunde. Beide Titel waren bereits für den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Apropos: Elf Titel stammen aus dem Frühjahr. Das Herbstprogramm scheint die Jury nicht wirklich überzeugt zu haben. Frankfurt-Erfahrung haben übrigens besonders Stephan Thome (diesmal nominiert mit „Der Gott der Barbaren“), der 2009 und 2012 auf der Shortlist stand, sowie Angelika Klüssendorf (2011 und 2014), der das Kunststück gelingt, auch mit ihrem dritten autobiografisch inspirierten Werk das Interesse der Frankfurter Jury zu wecken. „Jahre später“ ist der würdige Abschluss der Trilogie, er zeigt noch einmal eindringlich, wie wenig Worte es braucht, um viel Leben zu beschreiben.
Mit Arno Geiger und seinem Weltkriegsroman „Unter der Drachenwand“ ist ein Titel dabei, der zu Jahresbeginn zu Recht von vielen gepriesen wurde. Neben Geiger ist mit dem Südtiroler Josef Oberhollenzer („Sülzrather“) ein weiterer Autor mit Alpenbezug auf der Longlist vertreten. Oberhollenzer erscheint im Folio-Verlag, Bancius „Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten!“ erscheint in einem Verlag mit dem Namen PalmArtPress – schön, dass man im Literaturbetrieb immer noch überrascht werden kann, und sei es durch die Existenz bislang eher unbekannter Kleinverlage.
Der Schweizer Adolf Muschg – auch Gianna Molinari („Hier ist noch alles möglich“) ist Eidgenossin – ist mit „Heimkehr nach Fukushima“ nominiert und außerdem mit 84 Jahren der älteste Longlister. Die jüngste ist Helene Hegemann (Jahrgang 1992), in „Bungalow“ erzählt sie von der Identitätsfindung eines Mädchens. Die literarische Identitätsfindung der einst zur Skandalautorin hochgejazzten Hegemann, die in ihrem Debüt „Axolotl Roadkill“ ihre Inspirationsquellen zunächst nicht gänzlich offenlegte, scheint auf einem guten Weg zu sein.
Mit Inger-Maria Mahlke ist eine Autorin auf der Longlist, die einen speziellen Hamburg-Bezug hat: Sie gewann einst den ersten Klaus-Michael Kühne-Preis auf dem Harbour Front Literaturfestival, besucht selbiges anlässlich der diesjährigen Preisverleihung (21.9., 20 Uhr, KLU) und darf darüber hinaus auf Frankfurter Ehren hoffen. Ihr neuer Roman „Archipel“ ist ihr bislang reifstes Werk und so europäisch wie nur irgendeiner: Besonders reizvoll ist aber, dass er auf einem Eiland spielt. Wo doch Europa das gerade nicht ist.
Wer sonst noch nominiert ist: Susanne Fritz mit „Wie kommt der Krieg ins Kind“, Franziska Hauser mit „Die Gewitterschwimmerin“ (bester Titel!), Gert Loschütz mit „Ein schönes Paar“, Eckhart Nickel mit „Hysteria“ und Susanne Röckel mit „Der Vogelgott“. Verlags-Champion auf der Vorauswahl ist übrigens der Münchner Hanser-Verlag mit drei Titeln. Der bald wieder in Hamburg ansässige Rowohlt-Verlag ist in dieser Saison nur einmal vertreten.
Die Shortlist mit den sechs Finalisten wird am 11. September bekannt gegeben.