Hamburg. Roman, Krimi, Sachbuch: Die Auswahl in den Buchhandlungen ist groß. Was lohnt sich wirklich? Das sind die Tipps der Redaktion.

Was der Hamburger Immobilienmarkt mit der Literaturbranche zu tun hat? Eine ganze Menge. Beide zusammen geben dem nun in vielen Haushalten anstehenden Frühjahrsputz eine durchaus rabiate Note. Das Frühjahr ist die Saison des Ausmistens. Und was das angeht, steht das Bücherregal unter besonderer Beobachtung.

Im März sind wir die Rausschmeißer. Praktisch kein Mensch kann sich ja auf, sagen wir, 200 Quadratmetern ein standesgemäßes Bibliothekszimmer gönnen. Weil wiederum die Verlage alle Jahre wieder eine Vielzahl an vielversprechenden Büchern veröffentlichen und sich in eng bemessenen Hamburger Wohnzimmern die Regalbalken biegen, setzt eine Art natürliche Literatur-Auslese ein. Alte müssen weg, weil neue ihren Platz beanspruchen. Die große Verdrängung der Buchstaben, jetzt geht es wieder los!

Kein Mangel an starken Romanen

Und auf dieser Seite empfiehlt die Kulturredaktion des Abendblatts einige der Bücher, die vielleicht unbedingt in das Regal sollten, ganz gleich, wer ihnen dann weichen muss. An starken Romanen herrscht auch 2018 kein Mangel; man denke international an Autorinnen und Autoren wie Virginie Despentes („Das Leben des Vernon Subutex 2“), Haruki Murakami („Die Ermordung des Commandatore I“) und Elena Ferrante, deren Italien-Epos nun auch mal auserzählt ist. Auf das serielle Erzählen lassen wir aber überhaupt nichts kommen, klar.

Diese Woche findet die Leipziger Buchmesse (15.–18.3.) statt, beim dortigen Branchentreff werden sich die Verlage gegenseitig – und gleichzeitig, was viel wichtiger ist, dem Lesepublikum – ihre Novitäten vorführen. Die Veranstalter rechnen wie im Vorjahr mit knapp 300.000 Besuchern. Die können an 550 Orten Lesungen erleben; wenn die Literatur in Leipzig zu Gast ist, dann durchdringt sie die Stadt total.

Den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhält in diesem Jahr die Norwegerin Åsne Seierstad für ihr Buch über Anders Breivik, „Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders“. Beim Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik könnte eine Hamburgerin den Sieg davontragen: Anja Kampmann ist für ihr sprachmächtiges Debüt „Wie hoch die Wasser steigen“ nominiert. Mögen die Lese-Spiele beginnen.

Bügeln als Buße

Tonia Schreiber bügelt. Für mittelmäßigen Lohn, bei Menschen, die nicht ahnen, dass die Mittvierzigerin eigentlich Meeresbiologin ist und ein geerbtes Vermögen verschenkt hat, um fortan Buße zu tun. Buße für den Tod ihrer geliebten Nichte Emilie, für den sie sich verantwortlich fühlt. Die beiden waren im Kino, als ein (vermeintlicher) Attentäter plötzlich eine Pistole zog. Tonia warf sich auf ihn, ein Schuss, der sich löste, traf das Mädchen. Seltsam: Der Täter hatte auf seiner Brust ein schwarzes Quadrat tätowiert, eine Kopie des berühmten Bildes von Kasimir Malewitsch.

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Jahre später entdeckt Tonia das Motiv erneut – auf einem zu bügelnden Hemd. „Die Büglerin“ (Piper, 20 Euro) von Heinrich Steinfest ist kein Krimi, sondern eine mit großer Sympathie für die Protagonistin erzählte Entwicklungsgeschichte, in der sich immer wieder kleine große Sätze wie „Sie wollte zwar nicht ihren Körper für jemand Bestimmten aufsparen, aber ihre Seele durchaus“ finden. Ein Buch wie ein guter Malt Whiskey, den Tonia so liebt: tiefgründig und nährend. (hot)

Wölfe und Menschen

Wölfe faszinieren die 14-jährige Madeline Furston, die Heldin des Romans „Eine Geschichte der Wölfe“ (Berlin Verlag, 22 Euro). Kein Wunder, lebt sie doch mit der Familie in den Wäldern von Minnesota. In ihrer Schule ist sie eine Außenseiterin, wird als Freak bezeichnet, da sie mit ihren Eltern in den kläglichen Überresten einer Hippie-Kommune an einem See lebt. Hingezogen fühlt sich das Einzelkind zu ihrem Geschichtslehrer, der sie auch ermuntert, eine Arbeit über Wölfe zu schreiben.

Kurze Zeit später wird der Pädagoge wegen des Besitzes von Kinderpornografie verhaftet. Gleichzeitig zieht die junge Mutter Patra mit ihrem vierjährigen Sohn Paul neu an den See, und Madeline nutzt die Chance, sich zu engagieren. Sie nennt sich nun Linda, wird Babysitterin und sehnt sich danach, zu dieser scheinbar glücklichen Familie zu gehören. Aber auch hier stimmt etwas nicht. Doch Linda fehlen die sozialen Kompetenzen, um zu erkennen, was in diesem Hause vor sich geht. Der vorzüg­liche Debütroman der amerikanischen Autorin Emily Fridlunds ist ein Bildungsroman, lebhaft und spannend geschrieben. (kil)

Endlose Sätze

Madame Nielsen erzählt von einer kleinen Schicksalsgemeinschaft: Das junge Mädchen hat einen zarten, scheuen Freund. Der Stiefvater besitzt ein Gewehr, ist eifersüchtig und schickt seiner Frau einen Detektiv auf den Hals. Zwei junge Portugiesen kommen ins Haus und bringen das Gleichgewicht komplett aus dem Lot. Einer verliebt sich in die Mutter. Alles gerät aus den Fugen.

Ungeduldige sollten sich an diesem Buch vielleicht lieber nicht versuchen. Obwohl das kleinformatige Werk von Madame Nielsen, „Der endlose Sommer“ (Kiepenheuer & Witsch, 18 Euro), nicht einmal 200 Seiten lang ist, fordert es die Leser auf ganz besondere Weise heraus. Nicht nur der Sommer erscheint in diesem Buch endlos, auch die Sätze sind es. Sie erstrecken sich mit zahlreichen, in­einander verschachtelten Nebensätzen manchmal über mehr als eine Seite. Nielsens Art des fieberhaften Erzählens ist ebenso gewöhnungsbedürftig wie faszinierend. In ihrer Heimat, wo man sie auch als Performancekünstlerin kennt, ist die Dänin ein Star. (vob)

Die Wut der Männer

André Kubiczek ist seit 2016 kein unterschätzter Autor mehr. Damals stand er mit seinem zauberhaften Jugendroman „Skizze eines Sommers“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Sein neuer und herausragender, nach einem Vers von Stefan George betitelter Roman „Komm in den totgesagten Park und schau“ (Rowohlt, 22 Euro) erzählt von drei Männern, die sich im Kriegszustand mit der Welt befinden: vom verkrachten Germanisten Marek, dem die Patchworkfamilie abhanden zu kommen droht; von Mareks Sohn Felix, der zum autonomen Brandsatzschmeißer aus amourösen Gründen wird; von Veit, der an seiner Dissertation scheitert und mit neo-rechten Parolen im Netz Dampf ablässt.

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Es steckt viel Gegenwart in diesem Roman, Gewalt, Düsternis, Pessimismus – es gibt kein Entrinnen für Verlierer –, aber auch Witz. Kubiczeks Dialoge sind prächtig, sein Gespür für die literarische Architektur einer Szene beeindruckend. Ehe hier drei Männer auf der Flucht vor den Behörden sind und in der ostdeutschen Provinz versacken, steht einer vor ihnen vollgekotzt vor der Jugendamt­tante, es ist alles so absurd. (tha)

Ein Finnenkrimi

Mit Jaako geht es zu Ende. Erst 37 Jahre alt, erhält er von seinem Arzt eine niederschmetternde Diagnose: Seine inneren Organe sind allesamt schwer beschädigt, die Folgen einer schleichenden Vergiftung, deren Ursache unklar ist. Jaako hat nur noch Wochen zu leben, Monate höchstens. Doch wer hat ein Interesse daran, Jaako zu vergiften? Der finnische Autor Antti Tuomainen erzählt in seinem wunderbar schwarzhumorigen Kriminalroman „Die letzten Meter bis zum Friedhof“ (Dt. von Niina Katariina Wagner und Jan Costin Wagner, Rowohlt, 19,95 Euro) die Geschichte Jaakos, der mit seiner Frau ein florierendes Unternehmen leitet, das mit den in Japan äußerst beliebten Matsutake-Pilzen handelt. Pilze, die in finnischen Wäldern wie Gras wachsen. Jaako hat nichts mehr zu verlieren, und so macht er sich auf zu einer Art Kreuzzug gegen all jene, die ihm Böses wollen. Tuomainens Roman liest sich wie jene Geschichten, die sein Landsmann Aki Kaurismäki in seinen Filmen erzählt. Kaurismäkis Ein-Wort-Zitat ziert denn auch den Buchdeckel: „Großartig!“ Schlichter und besser kann man diesen Roman kaum beschreiben. (va)

Eine moderne Flucht

Mit „Die Schulzeit Jesu“ (S. Fischer Verlag, 22 Euro) legt der südafrikanisch-australische Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee den zweiten Teil seiner „Jesus“-Trilogie vor. Einen Jesus gibt es allerdings auch diesmal nicht, stattdessen folgt der Leser dem sechsjährigen David, der mit einem Schiff in einem Land ohne Namen und ohne Erinnerung gestrandet ist, dort in Simon und Ines Ersatzeltern findet.

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Der hochbegabte David erweist sich als ein schwieriges Kind. Kein göttlich Allwissender, eher tief verhaftet im Dunkel seiner eigenen Existenz. Um einer Volkszählung zu entgehen, flieht das Trio in die Provinz. Dort landet David an einer mit Zahlenmystik arbeitenden Tanzakademie, geleitet von einer schönen Frau, deren Verehrer in einem Strudel aus Schuld und Sühne von Dostojewski-haften Ausmaß landet. Parabelhaft, schnörkellos und Dialog-getrieben erzählt Coetzee eine moderne Fluchtgeschichte, gespickt mit biblischen und literarischen Anspielungen. Blasphemisch kreist er um die Grundfragen des Glaubens, hält den Leser gekonnt in der Schwebe – und lässt genug Rätsel für Teil drei. (asti)

Sex, Gewalt und KZ

Nach seinen hochgelobten Romanen „Morphin“ und „Drach“ hat Szczepan Twardoch mit „Der Boxer“ (Rowohlt Berlin, 22,95 Euro) das nächste heraus­ragende Werk veröffentlicht. Twardochs Story spielt im Warschau der 30er-Jahre und wirft ein Schlaglicht auf eine geteilte Stadt. In den armen Vierteln leben die Juden, in den besseren die Polen. Seine Hauptfigur ist ein jüdischer Boxer, der für einen „Paten“ Geld eintreibt und auch vor Mord nicht zurückschreckt. Twardoch schildert das Leben in der Unterwelt auf drastische Art, mit expliziten Darstellungen von Sex und Gewalt. Doch „Der Boxer“ hat auch eine bis in die Gegenwart reichende politische Komponente. In einer Zeit, in der die aktuelle Regierung eine polnische Beteiligung am Holocaust verneint, beschreibt Twardoch den Judenhass polnischer Nationalisten, die schlimmen Folterungen im polnischen Konzentrationslager Bereza Kartuska und den – historisch allerdings nicht belegten – Putschversuch rechter Kräfte im Oktober 1937. Twardochs Roman ist von ähnlicher Wucht wie die Schläge seines schwergewichtigen Helden Jakub Shapiro. (oeh)

Die Liebe der Eltern

Ein glänzender Roman, obwohl er eine immer wiederkehrende Geschichte erzählt: die von der Spurensuche in den Biografien anderer. In Gert Loschützs „Ein schönes Paar“ (Schöffling, 22 Euro) sterben der Vater und dann die Mutter des Erzählers Philipp Karst. Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr zueinander. Wie kam es zu dieser Distanz? Warum scheitert die Liebe am Leben? Loschütz, Jahrgang 1946, erkundet in diesem im gesetzten Ton der biografischen Schwermut geschriebenen Buch, wie ein Mann in die Vergangenheit reist, um dort seine Eltern wieder zu treffen. Und zwar zu der Zeit, in der sie sich, der Zukunft zugewandt trotz des Krieges, der da kam, kennenlernten. Dann, als sie die DDR verließen und in den Westen übersiedelten – und sich dort trennten, unter für ein Kind rätselhaften Umständen. Der Erzähler bleibt in der Rekapi­tulation das Kind, das er war – auf einer distanzierten Beobachterposition, ratlos, aber empathisch. (tha)

Unverdaute Konflikte

Satirisch und recht erbarmungslos geht es in Deborah Levys Roman „Heiße Milch“ (KiWi, 20 Euro) zu. Er folgt der jungen Sofia und deren Mutter Rose nach Spanien, wo sie Heilung bei einem berühmten Mediziner ersehnen – letzte Hoffnung für Rose, deren Beine den Dienst versagen. Roses zelebrierte Hilflosigkeit hindert die Tochter, die für die Mutter den Abschluss ihrer Doktorarbeit auf Eis gelegt hat, ihr eigenes Leben zu leben.

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Entlang der Geschichte, die sich immer wieder amüsant ins Absurde steigert, taucht die Britin Levy ins Unterbewusstsein hinab, dorthin, wo ihr unverdauter Vater-Konflikt lauert, die Hassliebe zur Mutter, wo die eigene Lebenslust hinabgedrückt wird. Die träge Sofia macht eine Menge Erfahrungen und fliegt schließlich zu ihrem neu verheirateten Vater, um ernüchtert festzustellen, was für ein erbärmlicher Mensch er ist. Dann merkt sie, dass ihre Mutter, wenn sie mal nicht dabei ist, plötzlich wie ausgewechselt über den Strand wieseln kann. (eng)

Schären-Kammerspiel

Es ist ein schmales Buch und eines, das im Original bereits vor 25 Jahren erschienen ist: „Nachsommer“ (18 Euro) von Johan Bargum, einem der profiliertesten finnlandschwedischen Autoren, für den Hamburger mare-Verlag nun ins Deutsche übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig. Schmal ist der Band, aber zeitlos und berührend. Bargum erzählt darin von einem Spätsommer am Wasser, die hellen Nächte sind bereits vorbei, als die beiden ungleichen Brüder Olof und Carl nach Jahren ohne Kontakt aufeinandertreffen. Ihre Mutter liegt im Familien-Sommerhaus in den südfinnischen Schären im Sterben. Sie hat stets Carl, den jüngeren, stärkeren, ungerechteren der beiden Brüder, dem sensiblen Olof vorgezogen. In schnörkellosen Sätzen beschreibt Bargum die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander, eine wesentliche Rolle dabei spielt auch das Verhältnis des phlegmatischen Olof, er ist der Ich-Erzähler, zu seiner Schwägerin. Ein melancholisches, auch humorvolles, nordisch klares Kammerspiel. (msch)

Unsere Bestseller

Wer wissen möchte, warum wir lesen, und warum wir was wann lesen, der muss Jörg Magenaus Studie „Bestseller: Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten“ (Hoffmann und Campe, 22 Euro) lesen. Magenau, der zuletzt ein Buch über die Freundschaft zwischen Siegfried Lenz und Helmut Schmidt vorlegte, widmet sich in seiner speziellen deutschen Literaturgeschichte den Toptiteln seit 1945. Dabei macht er sich grundsätzliche Gedanken über unsere Neugierde, die sich im Leseverhalten spiegelt.

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Magenaus Analyse der Bestsellerliste kommt zu dem nicht ganz überraschenden Schluss, dass sich auf jenen Listen Geschehen, Mentalitäts- und Zeitgeschichte zeigen. „Der Buchmarkt ist ein Spiegelbild all dessen, was sich ereignet Jahr für Jahr“, schreibt Magenau, um sich dann in die einzelnen Titel – Belle­tristik und Sachbuch – zu stürzen, die nur zu ihrer Zeit so wahnsinnig erfolgreich werden konnten: „Ich bin dann mal weg“, Peter Wohlleben, Sarrazin, und viel früher: Theodor Plivier, C.W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte: Roman der Archäologie“, „Die Blechtrommel“ – deutsche Lese-Geschichte. (tha)