Hamburg. Der Buchladen Osterstraße wird 40, „1968“ sogar 50 und der Nautilus-Verlag jetzt von einem Kollektiv geleitet.
Der Herr da, sagt Torsten Meinicke, der sei ein Triple-A-Kunde. Er meint den Kunden, der gerade mit einem Stapel Büchern das Geschäft verlassen hat. Einer von den für Buchhandlungen so wichtigen Viellesern und auch Vielkäufern, die durchaus mal 200 Euro dalassen. Einer von denen, die man sich in dutzendfacher Ausführung schnitzen würde, ginge das denn.
Meinicke ist 57 Jahre alt. Er sieht gut und gerne zehn Jahre jünger aus, und er ist seit 20 Jahren einer der Betreiber des Buchladens Osterstraße. Der wird jetzt 40 Jahre alt, und weil er aus dem Geist der 68er-Bewegung heraus entstanden ist, die in diesem Jahr 50 Jahre alt wird, ist die Buchhandlung ein passender Gedächtnisort. Meinicke, dessen Kolleginnen Gerlinde Schneider und Doris Claus heute auch hier sind, lädt ein zum Gespräch im Büro: Ein sympathischer Verschlag mit Kisten und Ordnern, in dem kaum zwei Leute Platz finden.
Kämpferische Haltung
Aber es passt viel Geschichte hinein in diesen Buchladen Osterstraße, und so drückt Meinicke einem erst einmal einen Abriss dieser Geschichte, den sie anlässlich des runden Geburtstags für die Freunde und Kunden verfasst haben, in die Hand. Später, als man hineinblättert, findet man dort einen Satz, der unbedingt als Erbe der kämpferischen Haltung von einst verstanden werden muss. „Sagen wir es also in aller Deutlichkeit“, steht da zu lesen, „es gab uns also schon, da hat Jeff Bezos noch in die Windel geschissen (oder zumindest ganz kleine Päckchen gepackt)“.
Aber über Amazon und den drohenden Verlust von analogen Kunden wollen wir gar nicht bis ins letzte Detail reden. Sondern eher darüber, wie links eine Buchhandlung wie der am Ende der Osterstraße gelegene Buchladen noch sein darf, muss oder kann. Darüber, ob die Leser speziell ihnen aus rein biologischen Gründen nicht langsam abhanden kommen. Oder ob es nicht tatsächlich so ist, dass engagiertes, linkes Denken nicht einerseits sowieso zeitlos ist und andererseits: so dringlich wie lange nicht mehr. Gemacht worden sind linke Bücher ja immer, zum Beispiel auch in der Hamburger Edition Nautilus, zu der wir später noch kommen.
Als Meinicke im Buchladen Osterstraße anfing, reizte ihn die dezidiert politische Ausrichtung, die aber, sagt Meinicke, „keineswegs dogmatisch“ war. Die ganz großen Kämpfe waren bereits gekämpft, die neuen sozialen Bewegungen etabliert. Und auch wenn 2018 nicht 1978 ist, findet Meinicke: „Die Lust auf linke Autoren und Ideen gibt es immer noch, und die Hamburger wissen, dass sie manche Bücher etwa zum Thema Nationalsozialismus nur bei uns finden.“ So sei erst in jüngerer Vergangenheit ein mit dem Thema „Anarchismus“ dekoriertes Schaufenster der Grund dafür gewesen, dass die Leute ihnen die Bude einrannten.
Kritik am Kapitalismus
Früher, als die Welt noch von vielen Mittel- und Alt-68ern auf links gedreht werden sollte, kamen die Revolutionäre in den Laden und griffen sich die neue Ausgabe des „Kursbuchs“ vom Stapel. Heute, sagt Meinickes Kollegin Gerlinde Schneider, lesen und kaufen die jungen Leute auch schon mal Marx, „vor allem aber gehen bei uns feministische Autorinnen wie Laurie Penny und Internetkritiker wie Timo Daum“.
Ein halbes Jahrhundert nach ‘68 ist Gesellschaftskritik immer noch oft gegen den Kapitalismus gerichtet. Und sie ist, wenn sie links ist, in diesen Tagen von einer andersgearteten Dringlichkeit als vor 50 Jahren: Wo es damals darum ging, Verkrustungen aufzubrechen, Freiheiten zu erkämpfen und sich zu emanzipieren, muss heute, in Zeiten der AfD, vor allem gegengesteuert werden, damit rechte Gedanken nicht hoffähig werden.
Man könnte also sagen: Die Zeiten sind gut für Bücher von links, sie werden gebraucht. Und in der Tat war das Jahr 2017 ein gutes Jahr für den Buchladen. Was aber auch am guten Belletristikprogramm und vor allem den Geschichtsbüchern liegt, eine Kernkompetenz der Buchhandlung. Die Stamm-gäste, die seit Jahrzehnten in die Osterstraße kommen, erwarteten, dass linke Sachbuchliteratur „immer vorrätig ist“, erzählt Meinicke. Sie wollten auf den Tischen ihre politische Jugend, ihre kämpferische Vergangenheit sehen, „als eine Art Bewusstseinstapete“. Sie kaufen dann, sagt Meinicke, aber oft lieber den neuen Ferrante-Band.
Meinicke ist übrigens im Beirat der Edition Nautilus, er berät den in Altona ansässigen Verlag bei der Programmgestaltung. Nautilus wurde nur vier Jahre vor dem Buchladen gegründet, und man kann sagen, dass wirklich einiges von dem, was sich dort über die Jahre verkauft hat und weshalb die Menschen in die Osterstraße kamen, in dem einst von Pierre Gallissaires, Lutz Schulenburg und Hanna Mittelstädt gegründeten Verlag erschien.
Nun ist Zeitenwende
Das ist ja immer noch so, die bereits genannte Laurie Penny etwa ist eine Nautilus-Autorin. Und publizistisch verbunden mit einem Haus, das neben der oft vorzüglichen und für die Abbildung der gesellschaftlichen Realitäten wichtigen „Flugschrift“-Reihe bekannt ist, aber auch für seine Krimi-Schiene und Belletristik. Andrea Maria Schinkels „Tannöd“ wurde 2007 zum Superbestseller, und Isabel Fargo Coles Roman „Die grüne Grenze“ stand erst vor wenigen Wochen im Finale des Leipziger Buchpreises.
Und nun ist Zeitenwende bei diesem kleinen, feinen Verlag. Zum Jahresbeginn 2018 übergab Verlagsmitgründerin Hanna Mittelstädt Nautilus nach einer Übergangsphase vollständig an ihre fünfköpfige Mannschaft, die man im Falle von Nautilus wohl tatsächlich lieber eine Crew nennt. Vier Frauen, ein Mann; das ist in Altona schon seit Längerem die Antwort auf die Frage, ob es in der Verlagsbranche (wie andernorts auch) viel mehr Frauen vor allem in Führungspositionen geben müsste.
Der Verlag wird nun kollektiv geführt, was einerseits eine schnurgerade Traditionslinie direkt bis nach ‘68 und andererseits auch einfach nur eine Verteilung von Risiken ist. Katharina Picandet hat, so sagen die vier Nautilus-Macher, die uns an diesem Tag gegenüber sitzen, „die Fäden in der Hand, aber wir entscheiden alles so kollektiv wie möglich“. Gemeinsam mit Pressefrau Franziska Otto ist die Programmchefin Picandet formal Geschäftsführerin. Katharina Bünger (Vertrieb) und Klaus Voß (Herstellung), der seit 1984 beim Verlag ist, komplettieren das Team, Katharina Florian ist derzeit in Elternzeit.
Wenn man diesen zumeist noch jungen, von ihrer Arbeit und ihrem Verlag begeisterten Menschen dabei zuhört, wie sie entspannt vom „Zurückstecken“, von „Kompromissbereitschaft, die auch eine Übung ist“ und von der Verwunderung anderer Verlage – „Wie macht Ihr das?“ – sprechen, hält man den Kollektivgedanken automatisch für den großartigsten der Welt.
Gegenwart ist für viele unübersichtlich
Bei Nautilus werden unverdrossen „linke“ Bücher gemacht. Es ist zwar nicht so, dass die Zeitläufte über diese aus der 68er-Bewegung rührende verlegerische Unternehmung hinweggegangen wären, aber die 68er, sagt Katharina Picandet, „waren nicht die letzte politische Generation“. Brokdorf hätte sie, die 1974 geboren ist, geprägt.
Und dann gab es Attac in den Neunzigerjahren und die Antiglobalisierungsbewegungen. Für was etwa die standen und stehen, haben schon immer die „Flugschriften“ gespiegelt, jene optisch leicht wiedererkennbaren Gebrauchstexte, die, erklärt Picandet, in die aktuelle Debatte eingreifen sollen, ohne „Jahrzehnte überdauernde Standardwerke zu sein“. Das Interesse für Gesellschaftsanalyse von links sei da.Weil diese Zeit von so vielen als unübersichtlich wahrgenommen wird. Weil die Menschen wissen wollen, wohin die Gesellschaft sich bewegt.
Der Geist von ‘68 ist ihnen wichtig. Engagement, Aufbruch, das sind Werte, die nicht von gestern sind. Würde Nautilus ein Buch machen, das sich kritisch mit der Studentenbewegung und ihren Weiterungen auseinandersetzt? Na klar, sagt Picandet, „aber wir würden kein Buch machen, in dem die 68er als ,linksrotgrün versifft‘ bezeichnet werden“.
Hanna Mittelstädt, die sich jetzt aus der Führung des Verlags zurückgezogen hat, sagt: „Ich bin ganz raus, programmatisch sind meine Nachfolger autonom, aber mein Vermächtnis ist die Traditionslinie des Verlags.“ Es wird auch künftig viele Nautilus-Bücher geben. Und die werden dann im Buchladen Osterstraße verkauft.
„Warum so verlegen?“ Ein Abend mit Hanna Mittelstädt und Katharina Picandet, Mi 30.5., 20 Uhr, Buchladen Osterstraße, Eintritt 5,-