Hamburg. Beim Musikfest steht Komponist Karlheinz Stockhausen im Mittelpunkt. Ein Gespräch mit Kathinka Pasveer über die Legende.

So soll eine Nachlassverwalterin aussehen? Mit Jeans und Pferdeschwanz, graziös und heiter wie ein junges Mädchen kommt Kathinka Pasveer auf Kampnagel von der Probe. Auch wenn man ihr ihre 58 Jahre nicht ansieht, die niederländische Flötistin ist wandelnde Musikgeschichte. Mehr als zwei Jahrzehnte lang hat sie mit dem Komponisten Karlheinz Stockhausen gelebt und gearbeitet; nach dessen Tod 2007 übernahm sie mit der Klarinettistin Suzanne Stephens die Leitung der Stockhausen-Stiftung für Musik. Auf Kampnagel arbeitet sie mit den Solisten der Produktion „Donnerstag“ aus Stockhausens Mammutzyklus „Licht“, die am Sonntag aufgeführt wird. Neben dem Orchester sind fünf Chorgruppen beteiligt, die Hauptfiguren Eva und Michael werden von jeweils drei Künstlern verkörpert, die musikalische Leitung hat Peter Eötvös, zurzeit Residenzkünstler der Elbphilharmonie. Pasveer selbst führt Klangregie. Das Interview findet in der Halle K6 statt. Drum herum wird montiert und gehämmert, hin und wieder ruft ihr jemand eine Frage zum Ablauf zu. Pasveer beantwortet sie alle ohne nachzudenken.

Wenn ich ein Stück von Stockhausen aufführen wollte, bräuchte ich Ihre Erlaubnis?

Kathinka Pasveer: Für viele Stücke kann man die Partituren einfach so kaufen. Da laufen in der ganzen Welt Aufführungen, von denen wir keine Ahnung haben. Bei großen Opern ist das anders, für die muss man Leihmaterial beim Stockhausen-Verlag bestellen. Dann wissen wir, dass jemand etwas aufführen will. Weil das so komplex ist, sind die Leute oft dankbar für Hilfestellung: Was brauche ich, was darf ich nicht vergessen?

Und Tantiemen verhandeln Sie selbst?

Für Opern ja, das geht direkt über den Stockhausen-Verlag. Da kann man auch mal Kompromisse machen, wenn man weiß, das sind Idealisten, die haben nicht viel Geld.

Ist das ein Fulltime-Job, das Erbe zu verwalten?

Ich leite die Stockhausen-Stiftung nicht allein. Im Vorstand sind wir zu dritt, und dann gibt es einen Beirat.

Aber Sie treffen die künstlerischen Entscheidungen. Was kommt da so?

Täglich Anfragen aus der ganzen Welt. Ich möchte dieses Stück aufführen, was brauche ich dazu? Dann antworte ich, die Partitur gibt es zu kaufen, aber das Tonband kann man auch bei uns bestellen. Oder, diese Werke passen nicht so gut zusammen, wenn etwa ein Stück für achtspuriges und das andere für vierspuriges Tonband ist.

Stockhausen hat in „Licht“ so extravagante Sachen geschrieben wie ein „Helikopter-Quartett“, bei dem jeder Musiker eines Streichquartetts in einem separaten Hubschrauber fliegt. Zum Ensemble werden sie erst im Konzertsaal durch Ton- und Video-Übertragung. Wie oft wird das Stück gespielt?

Verrückterweise am meisten von dem ganzen Zyklus. Das hätten wir nie erwartet.

Das ist doch irre teuer!

Aber die schaffen das. Das interessiert die Leute.

Sie leben immer noch in Kürten ...

... in seinem Haus.

Sie sind mehr als 30 Jahre jünger als Stockhausen. Wie kam es zu dieser musikalischen Partnerschaft?

Ich war noch Studentin am Konservatorium in Den Haag. Da kam er für einen Monat mit einem Ensemble hin, um Masterclasses zu geben und ganz viele verschiedene Konzerte. Als ich diese Konzerte besuchte, da habe ich sofort gedacht, das ist meine Welt. Ich habe dann zweimal mit ihm gearbeitet. Nachdem er wieder weg war, bekam ich einen Anruf von ihm: Ich solle nach Kürten kommen, er wolle ein Stück für mich schreiben. Dann haben wir da in Kürten ein paar Tage zusammengearbeitet. Es war direkt eine Verbindung da. Schon als ich ihn in Den Haag zum ersten Mal sah, dachte ich, diesen Mann kenne ich.

Aus einem früheren Leben?

Das haben wir beide gefühlt. Das Zusammenleben war einfach so schön, und Suzanne Stephens, die lebte ja mit Stockhausen, war wie eine Freundin. Sie hatte mich während dieses Monats in Den Haag auch unterrichtet.

Und diese Ménage-à-trois war für Sie alle drei okay?

Wunderbar. Ich glaube, es ist schwierig, wenn man nur Frau sein will. Aber es ging ja um die Musik. Er hat sehr viele Werke für Suzanne und mich geschrieben.

Wie war denn das im katholischen Rheinland, wenn da jemand öffentlich sagte, ich habe zwei Frauen?

Er hatte dort, wo er lebte, keinen Kontakt mit Nachbarn. Das Haus liegt ganz allein. Aber er war immer ganz offen. Wenn wir auf Reisen gegangen sind, sagte er, ich bringe Kathinka und Suzanne mit.

Hamburg war wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 Schauplatz einer denkwürdigen Pressekonferenz. Stockhausen probte in den Tagen „Freitag“ aus „Licht“ in der Laeiszhalle. Bei der Pressekonferenz sprach er im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom einem „Kunstwerk“. Die öffentliche Empörung folgte auf dem Fuße, die Aufführung wurde abgesagt. Waren Sie damals dabei?

Das war ein Albtraum! Die Pressekonferenz ging eigentlich wunderbar. Dann hat jemand gesagt, Michael und Luzifer und Eva, das sind ja Figuren aus der gemeinsamen Kulturgeschichte. Da sagte Stockhausen: Nein, das sind Geister, die sind auch heute präsent. Zum Beispiel Luzifer in New York, denn Luzifer ist der Zerstörer. Und dann hat er gesagt: Jetzt müssen Sie mal Ihr Gehirn ein bisschen umstellen – und bitte, erwähnen Sie das nicht in Ihrer Veröffentlichung, weil die meisten Leute das nicht verstehen können. Das hat nachher jemand total aus dem Kontext gerissen. Stockhausen hat noch versucht, sich mit einem Text zu erklären. Ihm ging es allein um die Perfektion des Aktes.

Um eine perfide Perfektion.

Das hat er auch gesagt: Gute Kunst muss eigentlich auch so einen Effekt haben. Man stirbt zwar nicht, aber gute Kunst muss zerstören, muss den Menschen irgendwie aufbrechen.

Aber können Sie verstehen, dass so ein Satz in diesem Zusammenhang verstört?

Nein. Er hat ja nicht gesagt, wunderbar, was da in New York passiert ist. Nein, es ist ein luziferischer Geist, der in der Welt tätig ist.

Was die Leute anstößig fanden, war wohl hauptsächlich das Wort „Kunstwerk“.

Ich weiß noch, dass ich an dem Abend zu Stockhausen sagte, du wirst Probleme kriegen. Er sagte, wieso, ich habe doch ganz klar gebeten, das nicht zu veröffentlichen.

War das ein Knick für ihn?

Er hat einfach weiterkomponiert. Seine Enttäuschung über die Welt war schon immer da. Seit seinen ersten Werken ist er nicht verstanden worden.

Das ist ja auch Komponistenschicksal, oder?

Bei manchen Komponisten. Er war seiner Zeit einfach voraus. Er hat immer gesagt: Man muss 40, 50 Jahre warten. Ich muss nur sterben, und dann geht’s los.

Wie reagieren die Leute auf seine Musik?

Das kommt aufs Stück an. Nehmen Sie „Cosmic pulses“, das sind 33 Minuten elektronische Musik. Das hat Stockhausen mit 79 komponiert. Wenn man das weiß, dann kann man doch auch mit 40 oder 50 noch ein bisschen offen sein, oder? (lacht) Man muss sich einfach öffnen! Und sich freuen über das Neue! Wir freuen uns doch über jedes neue iPhone, jedes neue Gadget.

Aber in der Musik komischerweise nicht.

Weil die Leute glauben, ich muss es verstehen. Stockhausen hat immer gesagt, man braucht gar nichts zu verstehen. Jeder Mensch spürt etwas ganz anderes.

Wie ist denn das bei Ihnen? Haben Sie Spaß an klassischer Musik?

Klar! Ich singe in einem Chor, da machen wir nächsten Monat Bach, Magnificat. Aber Stockhausen fühlte sich ja auch in der Tradition dieser großen Meister.

Spielen Sie noch Flöte?

Nur Stockhausen. Er hat so viel für mich geschrieben. Man muss ja alles auswendig können.

Veranstaltungstipp im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg: „Gruppen“
28.5., 19.30, Mehr! Theater am Großmarkt, Tickets zu 29,- unter T. 35 76 66 66 und www.musikfest-hamburg.de

Der Komponist

Karlheinz Stockhausen (1928–2007) war Pionier der elektronischen Musik, Bürgerschreck, Visionär ohne Bodenhaftung – dass die Zuschreibungen so zahlreich sind, liegt auch in seinem künstlerischen Antrieb begründet: Stockhausen suchte stets das Neue und prägte die Musik des 20. Jahrhunderts wesentlich mit. 1957 brachte er „Gruppen“ zur Uraufführung, bei dem drei Ensembles im Raum verteilt zeitlich voneinander unabhängig agieren.

Mehr als 25 Jahre lang arbeitete er an seinem Musiktheater-Zyklus „Licht“, mit 29 Stunden Dauer nahezu doppelt so lang wie Wagners „Ring des Nibelungen“. Viele Auszüge aus dem Zyklus sind auch separat zum Repertoire des Konzertbetriebs geworden, etwa das „Helikopter-Quartett“, bei dem jeder Musiker eines Streichquartetts einen Hubschrauber für sich hat. Zum Ensemble werden sie erst im Konzertsaal durch Ton- und Video-Übertragung. vfz