Hamburg. Auch Kanzlerin Angela Merkel war begeistert vom Gastspiel des Bayerischen Staatsorchesters unter Kirill Petrenko.

Tausendmal gehört, tausendmal ist nichts ... wirklich gar nichts? Nein, das wäre gemein. Im Ernst: Das Doppelkonzert von Brahms hat es nicht ganz leicht, einem ans Herz zu greifen. Dabei war es dem Komponisten genau darum zu tun; er schrieb es, um nach einem Zerwürfnis mit dem Geiger Joseph Joachim an die alte Freundschaft anzuknüpfen. Dennoch kann das Stück so spröde und akademisch wirken wie eine Fingerübung. Gestandene Künstler sind an ihm schon abgeblitzt.

Nach dem Münchner Gastspiel in der Elbphilharmonie – am Start die Geigerin Julia Fischer (geboren in München), der Cellist Daniel Müller-Schott (ebenso) und das Bayerische Staatsorchester unter Kirill Petrenko – steht eins unwiderruflich fest: An Brahms liegt das nicht. Man muss halt einen Zugang finden zu der Machart des Stücks, eine innere Verbindung herstellen zwischen den Ausbrüchen des Orchesters, die den Beginn markieren wie Findlinge, und den erzählenden, tastenden Solopassagen. Diese ganz besondere Ebene war im Großen Saal vom ersten Takt an da. Womöglich konnte sie nur dort auf diese Weise entstehen, nur in dieser Akustik, die in diesem Moment wie ein Vergrößerungsglas wirkte, eins von der diskreten Sorte. 2100 Menschen durften dabei sein, wie Fischer und Müller-Schott die Musik eher befragten als beherrschten, vorsichtig, zweifelnd und so zart im Klang, als wären sie für sich, und zu Tränen gerührt. Wo doch Fischer sonst eher zu den Vertretern der perfekt versiegelten Oberfläche gehört.

Fischer und Müller-Schott stachelten sich gegenseitig an

Das Orchester wirkte unter dem akustischen Vergrößerungsglas so scharf akzentuiert, als hätte jemand den Farbkontrastregler hochgedreht. Petrenko war ganz nah bei seinen Solisten, moderierte das Zusammenspiel mit dem Orchester und formte immer neue kammermusikalische Konstellationen mit den Solobläsern. Den langsamen Satz dirigierte er in fließendem Tempo. Pathos hatte keinen Platz in dieser Lesart, dafür aber eine anrührend persönliche Zwiesprache der Solisten, die ihre Stimmen bis in die Nuancen der Klangfarbe hinein übergangslos verschmolzen. Und dem letzten Satz ließen die Beteiligten einen Hauch osteuropäischer Folklore angedeihen. Fischer und Müller-Schott ließen sich dabei nicht im mindesten von den haarsträubenden Doppelgriffen, parallelen Läufen und Akkorden beeindrucken. Sie barsten schier vor Spielfreude, lächelten einander verschwörerisch zu und schienen sich gegenseitig noch anzustacheln.

Stoff fürs Pausengespräch bot auch die spektakuläre Zugabe der beiden, die ursprünglich für Cembalo komponierte „Passacaglia“ von Händel, für Geige und Cello bearbeitet und auf Spätromantik gebürstet von dem Norweger Johan Halvorsen. Von Variation zu Variation wurden die spieltechnischen Finessen aberwitziger. Was für ein Schaulaufen, was für ein Vergnügen!

Nach dem letzten Ton herrschte andächtige Stille

Dafür war Tschaikowskys „Manfred“-Sinfonie nach der Pause harte seelische Arbeit für alle. Das gleichnamige Gedicht von Lord Byron, es handelt von verbotener inzestuöser Liebe, von Ausgestoßenwerden aus der Gesellschaft und einsamem Sterben im Gebirge, hat beim Komponisten möglicherweise an eigene Erfahrungen gerührt. Tschaikowsky selbst hatte eine Liebesbeziehung mit einem Mann, die er jahrelang geheim hielt und den er als Schwerkranken in Davos besuchte.

Seine Qualen breitete er in den Ecksätzen der Sinfonie aus, ohne die Sache durch Gefälligkeit abzumildern. Ein schwärzerer, modernerer Tschaikowsky lässt sich kaum denken. Wenn die Bässe im ersten Satz zur Klage der tiefen Holzbläser mit ruppigen Schlägen in die Tiefe stiegen, klang das beinahe nach den Tonballungen, wie man sie aus der Musik des 20. Jahrhunderts kennt.

Dafür war der nachfolgende Satz, „Vivace co­n spirito“ betitelt, von einer sommernachtstraumhaften Leichtigkeit. Duftig und frei strömte der Klang der Holzbläser, und die Geigengruppen hielten ganze Elfenschwärme am Flattern, ohne dass auch nur ein Elfchen aus dem Takt geraten wäre. Und wo der dritte Satz an ländliche Volksfeste erinnerte, zeigten sich die Musiker als Vollblut-Opernorchester. Petrenko konnte mit diesem Luxusklangkörper machen, was er wollte. Nie stand er dynamisch still; er formte Steigerungen und führte sie sogleich zurück, hob einzelne Stimmen heraus, ließ die Musik sprechen und erzählen bis zum verklärten Ende.

Nachdem der choralartige Abgesang am Schluss verklungen war, herrschte andächtige Stille. Dieses eine Mal konnte die Musik nachklingen, bevor der Jubel ausbrach. Die Menschen waren spürbar beseelt. Dass in Block D eine Dame mit blondem Kurzhaarschnitt und leuchtend violettem Blazer ihre alte Mutter durch die Sitzreihen eskortierte, gefolgt von einem breitschultrigen jungen Mann – das war den Leuten vielleicht einen interessierten Seitenblick wert. Mehr nicht.

Merkel im Konzert

Publikumsstimmen

Petra Dohna aus Hamburg: Es war sehr schön. Den Brahms fand ich phänomenal und die Akustik toll. Ich war zum ersten Mal da.
Günter Wörl aus Stuttgart: Mir hat vor allem das ungewöhnliche Programm gefallen. Es hat sich gelohnt, dafür aus Stuttgart zu kommen.
Michael Bogner aus München: Es hat mir unglaublich gut gefallen. Schon der Bau. Der Ausdruck des Dirigenten – er hat körperlich alles gegeben. Und in der Akustik hörte man jedes einzelne Instrument.