Hamburg. Großartig: Die konzertante Aufführung von Tschaikowskys „Jolanthe“ in der Elbphilharmonie. Von beseelten und glaubwürdigen Sängern.
Die Qualität eines Opernhauses erkennt man daran, wie gut die kleinen Rollen besetzt sind. Nach dieser Maxime soll der sagenumwobene Rolf Liebermann gehandelt haben, der langjährige Intendant der Hamburgischen Staatsoper. Wäre Liebermann am Sonnabend in der Elbphilharmonie gewesen, er hätte seine Freude gehabt.
Das Mariinsky Theater hatte Chor und Orchester von Sankt Petersburg an die Elbe geschickt und dazu eine Abordnung von Gesangssolisten, die meisten fest am Haus engagiert und einer stimmlich wie darstellerisch begeisternder als der andere.
Wer braucht schon ein Bühnenbild?
Ein Opernhaus zu Gast in der Elbphilharmonie? Ja, genau. „Oper konzertant“ heißt die kleine, feine Reihe. Wer sich darunter vorstellt, dass die Damen und Herren in Robe und Frack galaartig an der Rampe stehen und nichts weiter tun, als schöne Töne ins weite Rund der Halle zu entlassen, dem ist zu wünschen, dass er mal eine Karte für einen solchen Abend ergattert. Bis auf die Roben und Fräcke ist konzertante Oper nämlich ganz anders. Jedenfalls wenn Valery Gergiev am Pult steht, seines Zeichens Intendant und Chefdirigent des Mariinsky Theaters.
Unter Gergiev also bewegten sich die Sänger ungezwungen, wie es ihnen die Musik eingab. Traten auf und ab, gingen aufeinander zu, fassten einander gelegentlich am Ellenbogen und nutzten den Bühnenraum für die Interaktion der Figuren. Niemand fiel auf die Knie oder gar in Ohnmacht. Auch ohne eine Personenführung im szenischen Sinne wurde das Innenleben der blinden Königstochter Jolanthe und des übrigen Personals unmittelbar plausibel. Bühnenbild und Requisiten? Wozu, wenn die eigene Fantasie das Geschehen sowieso schon ausmalt?
Es wird alles gut
„Jolanthe“, Tschaikowskys letzte Oper, uraufgeführt 1891, besteht nur aus einem Akt und einer eher introvertierten Handlung: Der alte König hat es bei Todesstrafe verboten, seiner Tochter zu sagen, dass sie blind ist. Umgeben von ihrer Amme und liebevollen Freundinnen, ist dem Mädchen zunächst nicht bewusst, dass ihm etwas fehlt. Aber wie das so ist mit unterdrückten Wahrheiten, sie kommen vorzugsweise dann ans Licht, wenn niemand damit rechnet. In diesem Fall durch den jungen Vaudémont, der aus seinem Entsetzen über das Nichtwissen der unbekannten Schönen keinen Hehl macht und sich dadurch in Todesgefahr begibt. Nun hat Jolanthe einen doppelten Grund zu hoffen, dass der vom Vater herbeigeholte Arzt sie wieder sehend machen kann.
Es wird alles gut in diesem Märchen. Kein Weltendrama wie bei Wagner, keine Bösewichter wie bei Verdi. Und doch schwingt in Tschaikowskys Musik ein ungeheurer Resonanzraum mit. Sie malt die Szene mit zauberischen Mitteln aus: Hier näseln die Holzbläser wie eine mittelalterliche Kapelle, dort glaubt der Hörer sich von den glitzernden Streichergirlanden in ein wagnersches Waldweben versetzt. Stimmungen und Farben wandeln sich in Sekundenbruchteilen, ganz nah ist die Musik an den Empfindungen der Figuren – ob das Blech einen verhaltenen Schreckensschrei ausstößt oder die Streicher die Zweifel des Königs mit einem Herzschlag grundieren.
Beseelte und glaubwürdige Sänger
Dass diese intime Vertonung von Gefühlszuständen nicht platt klang, sondern schlicht bezwingend, ist den Sängern anzurechnen. Sprache und musikalisches Idiom schienen ihnen unmittelbar vom Komponisten eingegeben zu sein, so beseelt und glaubwürdig verkörperten sie ihre Rollen. Welches Haus nennt schon eine solche Riege an Baritonen sein eigen? Der Tenor Najmiddin Mavloyanov lieh dem Vaudémont wahren Belcanto-Schmelz und eine beeindruckende Höhe. Und der Sopranistin Irina Churilova hätte man am liebsten gleich noch einmal gelauscht, mit wie viel Atem, Wärme und Raffinesse sie die riesige Titelpartie gestaltete.
Gergiev und das Orchester trugen das Ihre dazu bei. Die paar Intonationstrübungen waren rasch vergessen; die ganz, ganz zarten Pianissimi hatte Gergiev offenbar schon alle ausgegeben, als er zwei Wochen zuvor mit den Münchner Philharmonikern in der Elbphilharmonie war. Saftig und überaus erzählerisch im Ton, ließen die Petersburger die Musik atmen oder Fahrt aufnehmen oder bündelten die Sache, wo sie mal leicht auseinanderdriftete – was so ein Opernorchester eben so draufhat. Ein Vollblutabend, der so bald nicht in Vergessenheit geraten wird.